Ruthard Stachowske               

Wissenschaftliche Publikationen

Rezension Dr. Beelitz

Ruthard Stachowske (Hrsg.), Leben ist Begegnung – Systemische Therapie und Beratung, Asanger Verlag, Kröning 2017, 390 S., ISBN 978-3-89334-607-3, € 29,50.

Im März 2016 fand in Dresden die 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft (SG) statt. Der Fokus der Tagung in Dresden war Zeitgeschichte in der Systemischen Therapie und Beratung. Es ging den Initiator*innen unter der Überschrift „Systemisch begegnet Wissenschaft“ darum, durch Begegnung und durch Reflexion für diese Zusammenhänge ein Bewusstsein entwickeln zu helfen. Das Thema zeitgeschichtlichen Arbeitens begleitet und beschäftigt die Systemische Therapie und Beratung in ihrem mehr- und transgenerationalen Arbeiten von Beginn an – individuell und bei ihren methodischen Ansätzen. Hier nun sollte das Bewusstsein dafür geschärft werden, und zwar interfakultativ und interdisziplinär. Die Tagung gab damit auch ein Beispiel für das, was auf WHO-Ebene bezüglich der Einbeziehung von sozialen, familiären, generationalen und kulturellen Faktoren mit der ergänzenden Einführung des ICF-Diagnosesystems (International Classification of Functioning, Disability and Health, 2001) gefordert wird. Es waren Menschen eingeladen, ihre Erfahrungen und Reflexionen dazustellen sowie Zeitgeschichte zu begehen an diesem historischen Ort, aufs Engste verbunden mit Krieg und Zerstörung sowie mit den Wende-Nächten. All dies war auf Systemische Therapie und Beratung und allgemein auf systemisches Arbeiten hin zu reflektieren – ein weites und kontroverses Feld. Das jetzt erschienene Buch besteht im Wesentlichen aus den damals in Dresden vorgetragenen Kongressbeiträgen. Die dazugehörende bewegende Begegnung mit „Frieden und Versöhnung“ in der Dresdner Frauenkirche ist auf YouTube abrufbar.

Tagungsbände zu lesen, ist oft mühevoll. Zu unterschiedlich und verschieden ausgerichtet sind in der Regel die Beiträge (hier 36 Kapitel) und die Beitragenden (hier 33 Autor*innen). Dass ist beim vorliegenden Band nicht anders und erschwert einen Überblick. Nach zwei Einleitungskapiteln zu dem im Titel festgehaltenen thematischen Fokus werden die Beiträge in 5 Abteilungen bezogen auf Systemische Beratung und Therapie verteilt: Psychotraumatologie; Zeitgeschichte und Familiengeschichte; Pränatale Psychologie; Abhängigkeit und Familie; Kinder in Deutschland. Zwei interessante weiterführende Beiträge zum Thema Systemische Wissenschaft schließen den Band inhaltlich ab. Am Schluss findet man ein Autorenverzeichnis mit den Kontaktdaten der Beitragenden.    

Der Herausgeber und die Initiator*innen des Kongresses gehen davon aus, dass in systemischer Therapie und Beratung nicht nur Beratungskompetenz und Feldkompetenz gefordert ist, sondern dass neben einer theoretischen Kompetenz gerade auch verfügbare Wissensbestände einen praktischen Unterschied im Beratungsalltag machen. Die genannten Abteilungen skizzieren daher aus interdisziplinärer Perspektive ausgewählte Wissensbestände zu für Therapie und Beratung relevanten zeitgeschichtlichen Themen: Geschichte, Entwicklung und Folgen des gesellschaftlichen Missbrauchs psychotroper Substanzen (pharmakologisches Wissen); Kriegsmigration und kollektive Trauma-Folgestörungen; vorgeburtliche Entwicklungspsychologie (pränatale Psychologie); Forschungsergebnisse der Psychotraumatologie. Dabei ist immer wieder sehr Informatives zu entdecken! Praktisch hilfreich für Therapie, Beratung und Supervision ist beispielsweise der Hinweis und die Darstellung im Beitrag von Thorsten Becker „Traumapädagogik: Helfernetzwerke aus einer systemischen Perspektive betrachtet“, dass die Kooperation in Helfersystemen unter dem Problem der tertiären strukturellen Dissoziation steht (47), also von Spaltungen auf der Ebene anscheinend normaler Persönlichkeitsanteile heimgesucht wird. Als professionell Seelsorgender dann schätzt man die differenzierende Wahrnehmung, dass sekundäre Traumaexposition auch dort stattfinden kann, wo die Worte fehlen (23).

Die überzeugende Gliederung des Bandes bietet auch in den thematischen Abteilungen unterschiedliche Beiträge, die sich zum Teil aneinander anschließen, andererseits auch anders hätten eingeordnet werden können. Thematisch eng beieinander liegend gehen die Abteilungen gelegentlich ineinander über und man kann dann selbst wählen, welche Verbindungen man als Leser schlagen will. So werden etwa eindrückliche Zusammenstellungen vorgetragener Materialien geboten, wobei Gruppen aufgrund gemeinsamer zeitgeschichtlicher Kontexte mit verschiedenen Besonderheiten beim Erinnern beobachtet werden: Erwachsene mit ihren Familien und Geschichten, die selber als Kinder im Holocaust, und sogar in Auschwitz selber (!), überlebt haben; andererseits Erwachsene, die als „Kinder des Krieges“ geboren wurden; andererseits Familiengeschichten mit „Euthanasie“-Opfern, mit als lebensunwert ermordeten Kindern oder Erwachsenen; andererseits Familien mit Fluchterfahrungen.

Das dem Band seinen Titel gebende Zitat Martin Bubers: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (M. Buber, Das Dialogische Prinzip, 1954/2006, 15) hat sich diesem Leser in Bezug auf Systemische Therapie und Beratung allerdings erst auf Seite 309 wirklich inhaltlich erschlossen. In beeindruckender Weise schildert dort Heidrun Girrulat „Selbstermächtigung durch Elterncoaching“ und beschreibt, wie sich in konfliktbeladenen Situationen Eltern durch das in ihrem Beitrag beschriebene systemische Coaching „auf den Weg der (Wieder-)Begegnung zu ihren Kindern begeben.“ Ähnlich zu Bubers Anliegen muss also dann weder seitens der Eltern noch seitens der Kinder ‚wirkliches Leben‘ weiter vermieden oder übergangen werden. So wird „Leben als Begegnung“, was im Eingang noch eher abstrakt bleibt (im Meilener Konzept system-therapeutischen Handelns; in zitierten Gedanken von Hans-Georg Gadamer), auch praktisch verständlich und systemisch nachvollziehbar.   

Das Buch bietet eine in vielerlei Hinsicht lohnende Lektüre!

Pfarrer Dr. Thomas Beelitz
Münchener Str. 47, 10779 Berlin
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