Ruthard Stachowske               

Wissenschaftliche Publikationen

ICD und ICF

„Von frühester Kindheit an lernen wir, Probleme in ihre Einzelteile zu zerlegen und die Welt zu fragmentieren. Dadurch werden komplexe Aufgaben und Themen scheinbar handhabbarer, aber wir zahlen einen versteckten, ungeheuer hohen Preis dafür. Wir sind nicht mehr in der Lage, die Konsequenzen unseres Handelns zu erkennen; wir verlieren die innere Verbindung zu einem umfassenderen Ganzen. Wenn wir dann versuchen, ‚das größere Bild’ zu sehen, bemühen wir uns, die Bruchstücke in unserem Kopf wieder zusammenzusetzen, alle Teile zu erfassen und zu ordnen. Aber das ist, wie der Physiker David Bohm es ausdrückt, vergebliche Liebesmüh, es ist so ähnlich, als würde man die Scherben eines zerbrochenen Spiegels wieder zusammenkleben und auf ein unverfälschtes Abbild hoffen.“ (Senge 1996, 11)

Die WHO hat in der 54. Vollversammlung im März 2001 beschlossen, weltweit ein neues Klassifikationssystem für Krankheiten, Gesundheitsstörungen und Behinderungen einzuführen, die ‚International Classification of Functioning, Disability and Health‘ (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF.) Die ICF ist als eine Erweiterung des internationalen Systems der Klassifikationen von Störungen der Gesundheit der WHO konzipiert. Sie ist somit eine Ergänzung zur weiterhin bestehenden ICD-10, dem am weitesten differenzierten Klassifikationssystem.

Die ICF bietet bei der Erklärung der Entwicklung von Störungen der Gesellschaft eine Matrix, mit der die „innere Verbindung zu dem umfassenderen Ganzen“ von Leben und Störungen im Leben zu bewahren – um so ‚das größere Bild‘ zu sehen, das sich so neu zeigt und dennoch die dabei zu behandelnden ‚komplexen Aufgaben und Themen‘ angemessen dargestellt werden kann.

Die ICF umfasst die objektiv erfassbare Dimension des menschlichen Lebens‘ (Rentsch/Bucher 2005, 17). Die ICF ist folglich das Modell einer dynamischen, prozesshaften und ressourcenorientierten Definition von Störungen der Gesundheit. Mit der ICF hat die WHO gleichsam einen paradigmatischen Wandel im internationalen System der Definitionen von Krankheit versus Gesundheit eingeleitet. ‚Die ICF stellt einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Krankheit respektive Gesund-heit dar. Statt auf Symptome und Defizite fixiert zu sein, versucht die ICF Krankheit im Hinblick auf die Person in allen ihren bio-sozialen Bezügen und unter Beachtung der Umwelt der Betroffenen zu verstehen‘ (Tesak in Rentsch/Bucher 2005, 11f).

Durch dieses neue Paradigma im Klassifikationssystem ICF ist somit in der Erklärung und Therapie von Störungen der Gesundheit/ICF und von Krankheit und Gesundheit/ICD gleichsam eine neue Option in Diagnose und Therapie eingeführt, da

  • die Störungen der Gesundheit und die sich daraus entwickelnden Konsequenzen für das Leben des Betroffenen beachtet und in den Kontext des Betroffenen als standardisierter Teil von Diagnose und Therapie gestellt werden;
  • der Kontext der Betroffenen als Einflussgröße auf diese Störung der Gesundheit in Diagnose und Therapie beachtet wird;
  • die Entwicklung der Störungen der Gesundheit über den Augenblick hinaus in ihrer retrospektiven und perspektivischen Entwicklung und in ihrem kontextuellen Hintergrund beachtet werden soll, und diagnostische Erkenntnisse aus diesem Tun und Wissen gleichsam in Diagnose und Therapie integriert werden sollen.

Der einzelne Mensch wird so in seiner bio-psycho-sozialen Komplexität gesehen. Die komplexe Fragestellung, wie Störungen der Gesundheit die betroffenen Menschen in ihrer Partizipation am Leben beeinflussen, wird zu einer entscheidenden und handlungsleitenden neuen Perspektive.

„Die bisher durch die ICD bestimmte symptom- und defizitorientierte und/oder lineare Betrachtung von Krankheit und Störung wird so zugunsten einer komplexen und kontextuellen Erklärung verändert, erweitert und ergänzt. Somit wird es zukünftig möglich, komplexe Entwicklungsbedingen, kontextuelle Einflussfaktoren und komplexe Auswirkungen dieser Störung der Gesundheit (ICF)/Krankheit (ICD) in Diagnose und Therapie zu integrieren“ (Stachowske 2008, S. 19 ff.) .

 

„Anders als derzeit viele klinisch tätige Ärzte und Wissenschaftler hat Ruthard Stachowske nicht hilflos oder abwertend klagend abgewartet, bis klinisch anwendbare score-tests der ICF der WHO für den Indikationsbereich Sucht vorliegen. Vielmehr erprobt er mit seinem Buch [„Sucht und Drogen im ICF-Modell“] die Möglichkeiten der ICF-Klassifikatoren als heuristische Matrix für die Analyse und Hypothesenüberprüfung einer von ihm gefundenen komplex ubiquitären und mehrgenerationalen Belastung der Bevölkerung Deutschlands mit kriegsbedingten Traumata und Traumafolgen sowie einen damit in Zusammenhang stehenden kompensatorischen Suchtmittelgebrauch seit etwa 1850“ (Georg Wiegand 2008).

 

Literaturverzeichnis

Senge, P. M. (1996). Die Fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart: Klett-Cotta (englisches Original erschienen 1990).

 

Wiegand, G. (2008). Vorwort in: Stachowske, R. (Hrsg.). Sucht und Drogen im ICF-Modell. Genogramm-Analysen in der Therapie von Abhängigkeit. Kröning: Asanger

 

Stachowske, R. (2008). Sucht und Drogen im ICF-Modell. Genogramm-Analysen in der Therapie von Abhängigkeit. Kröning: Asanger

 

Tesak, J. (2005). Vorwort des Herausgebers. In H. P. Rentsch & P. O. Bucher, ICF in der Rehabilitation. Die praktische Anwendung der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit im Rehabilitationsalltag. Idstein: Schulz-Kirchner, S. 11-12. http://www.schulz-kirchner.de/fileslp/
rentsch_icf.pdf [08.04.2018]

 

Ruthard Stachowske
Sucht und Drogen im ICF-Modell
Genogramm-Analysen in der Therapie der Abhängigkeit. 2008

400 S.

Asanger-Verlag