Ruthard Stachowske               

Wissenschaftliche Publikationen

Drogenabhängigkeit und Familien (-Geschichte)

Prof. Dr. Wolfgang Heckmann, Vorwort zu: "Mehrgenerationentherapie und Genogramme in der Drogenhilfe", Ruthard Stachowske

Der letzte große Krieg war schon ein halbes Jahrhundert vorüber, als uns ins Bewusstsein gebracht wurde, dass wir als Therapeuten mit den sekundären Opfern des Krieges und der sein Geschehen bestimmenden und erleidenden Generation beschäftigt sind. Es war Tilmann Moser, der uns in einem weiten Bogen auf die Schäden verwies, die aus Verhalten und Erleben der Kriegsgeneration an ihre Nachkommen weitergegeben worden waren. Aus stummem Entsetzen, aus Versuchen des Verges-sens, aus nicht oft gelingender und auch nicht nachhaltig betriebener Auseinandersetzung, aus kollektivem und radikalem antiautoritärem Protest, kurz: aus einem eklatanten Mangel an echter und gründlicher intergenerationaler Kommunikation sind Verwundungen und Vernarbungen entstanden. […]

Nun wird hier – gewissermaßen als Vertiefung des Erschreckens über unsere historische, mehrere Generationen übergreifende Verletzung an historischer Schuld – ins Detail gegangen. Das hier vorliegende Buch […] konzentriert sich auf eine Symptomatik: die Suchterkrankung, vorrangig den Missbrauch und die Abhängigkeit im Bereich der illegalen Drogen. Damit erschließt sich ein Spezialgebiet, das sich neben den großen kriegerischen und erkennbar zerstörerischen Ereignissen auch speziell mit den Verstrickungen von Personen und Institutionen in Verführung und Vergiftung, in Verdrängung und Vermarktung von Drogen und Drogenabhängigen beschäftigen muss: Schuld in Vielfalt und nur selten artikuliertes Entsetzen.

Die Konsument/Innen illegaler Drogen halten der Gesellschaft von jeher einen Spiegel über ihren Zustand der Verseuchung vor. Der Bezug des individuellen (Fehl)Verhaltens zu mächtigen Interessen z. B. von Pharma-Entwicklern und –Konzernen, ohne deren Energie sich die Mehrheit der Ismen wie Morphinismus, Kokainismus oder Methadonismus kaum je so weit verbreitet hätte, wurde noch selten so gründlich aufgearbeitet und mit Quellen belegt wie hier von Ruthard Stachowske.

Der Autor handelt und schreibt aus Überzeugung. Wer ihn als Vortragenden erlebt, spürt unmittelbar, da will etwas ans Licht, da muss etwas gesagt, der Welt mitgeteilt werden. Er spricht gar vom Paradigmenwechsel für die gesamte Suchtkrankenhilfe, die sich aus der mehrgenerationalen Perspektive ergebe.

Prof. Dr. Arist von Schlippe:

Unsere Zeit ist eine Zeit des Spezialwissens. Wir haben auf vielen Feldern ein ungeheures Detailwissen aufgehäuft, in einem Umfang und einer Schnelligkeit, wozu es in der Geschichte kein Beispiel gibt. Dies ist jedoch nicht nur ein Segen. "Wissen schafft Wüste" heißt es in einem wissenschaftskritischen Buch: Wir stehen in der Gefahr, dass Spezialwissen Spezialisten hervorbringt, die sich zwar auf ihrem jeweiligen Feld hervorragend auskennen, denen jedoch ein Bewusstsein für die Verbindung fehlt, für die "Ökologie der Wissensbereiche". Dann kann es geschehen, dass hochspezialisiertes Wissen ein- und umgesetzt wird, ohne die Querverbindungen zu bedenken, ohne einen Blick auf die Zusammenhänge des "Ganzen". Für den Umgang mit dem Thema "Drogen und Drogenmissbrauch" können wir dies im Feld der Psychotherapie genauso beobachten wie in der Politik.

Es braucht heute vor allem "Verbinder", Persönlichkeiten, die in der Lage sind, die Perspektiven verschiedener Felder zusammenzuführen und zu integrieren. Der Autor des vorliegenden Buches ist ein solcher Verbinder. Er kennt sich in der praktischen therapeutischen Arbeit mit drogenabhängigen Klienten hervorragend aus und ist gleichzeitig mit wissenschaftlichem Denken und wissenschaftlichen Arbeiten vertraut, ist belesen, kennt die Geschichte, nicht nur die des Drogenkonsums, sondern auch übergreifende soziologisch-historische Perspektiven. Mir ist kein Werk zum Thema "Sucht" bekannt, das so breit angelegt ist: Es versteht Sucht zunächst als viel zu wenig reflektiertes gesellschaftliches und historisches Phänomen und geht dann zu einer familiensystemischen Perspektive über, ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Mehrgenerationendynamiken in Familien — ein wesentlicher Akzent gerade angesichts aktuell populärer lösungsorientierter Kurz-Therapiekonzepte. Die Kernthese, dass sich "Familiengeschichten und Drogen-Substanzen begegnet sein müssen" (S. 7) und die hier besonders herausgestellte, neu belegte Geschichte der Wurzeln der aktuellen Drogenepidemie seit 1826 verbieten es, das Phänomen Drogenabhängigkeit als Antwort der heutigen Jugend auf die Gesellschaft oder einfach als kriminelle Aktivität einer heute zufällig besonders groß gewordenen Mafia zu verstehen.

Da ist denn auch nicht zu befürchten, dass ein Drogenabhängiger als Einzelner "auf die Couch gelegt" wird, auch nicht, dass sich die Arbeit im Führen von Familiengesprächen erschöpft — genauso wenig wie das Heil in einer revolutionären gesellschaftlichen Veränderung oder im Abbrennen von Opiumfeldern in Fernost gesucht wird. Der in diesem Buch angebotene Weg ist eher schwieriger als bisher begangene. Es geht darum, in mühsamer, genauer rekonstruktiver und konstruktiver Arbeit mit Betroffenen und Beteiligten auf schmerzhafte Bereiche zu schauen — und nicht bei der Historie des einzelnen, nicht bei seiner Familiengeschichte stehen zu bleiben, sondern immer wieder den Blick darüber hinaus zu wagen. Dass dabei dann auch kritische Fragen gestellt werden, bis hin zu der Frage nach dem eigenen, ganz persönlichen Verhältnis zu der nationalsozialistischen Vergangenheit, ist ein Aspekt, der dieses Buch zu einer Herausforderung macht: Die These der Verbindung von Familiengeschichten und Drogengebrauch wird nicht abstrakt und theoretisch durchbuchstabiert, sondern hier wird lebendige Geschichte erzählt das erschütterndste ist das Kapitel über die Opfer des Holocaust und über die NS-Zeit und ihre Folgen in den Seelen von Familien und Einzelpersonen.

Arist von Schlippe in dem Vorwort zu "Mehrgenerationentherapie und Genogramme in der Drogenhilfe" von Ruthard Stachowske

Der Zusammenhang zwischen politischen und traumatischen Geschehnissen und der Auswirkung auf individuelle Lebensentwürfe, Familiensysteme und Generationen spielt bei der Erklärung von Drogenabhängigkeiten (polytoxikomane Abhängigkeiten) eine entscheidende Rolle, die Annahme bei der Begründung dieser These ist, dass Rückkopplungseffekte von gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Entwicklungen (wie beispielsweise von Kriegen) die Entwicklung von Familiengeschichten und individuelle Lebensentwicklungen nachhaltig beeinflussen. Dementsprechend wird eine manifestierte Drogenabhängigkeit unter anderem als Ausdruck eines mehrgenerationalen Entwicklungsprozesses verstanden. Die Frage, wie das Früher im Heute wirkt, wird in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt.

„Jede Lebensentwicklung steht – in ihrer Kausalität betrachtet – in einem Zusammenhang zu Generationen. Sie ist Teil einer familiengeschichtlichen Entwicklung, die sich im Kontext der Zeitgeschichte und per se als Teil von Tradition und Generation vollzieht“ (ebd.).

Dabei handelt es sich um einen der wichtigsten therapeutischen Schwerpunkte.

„Das System der Generationen findet in der Theorie und praktischen Therapie von Drogenabhängigen neben der individual-zentrierten Perspektive bisher nur eine nachrangige Beachtung“ (Ruthard Stachowske).

Störungen in individuellen, familiären und generationalen Entwicklungen können sich auch aus traumatischen Erlebnissen und Ereignissen in der Herkunftsfamilie entwickeln, daher ist es in einer Therapie von hoher Wichtigkeit, die individual-zentrierte Perspektive um die mehrgenerationale und dementsprechend um die kontextuelle Perspektive zu erweitern – und Störungen in individuellen Lebensentwicklungen auch als Ausdruck einer mehrgenerationalen Entwicklung zu verstehen. Eine solche therapeutische Perspektive ist auch durch die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) begründet.

Eine mehrgenerationale Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte führt auch zur Berücksichtigung des Faktors Zeitgeschehen in der Entwicklung der jeweiligen Familie. Insbe-sondere der Nationalsozialismus hat den Konsum von Drogen durch deren umfangreiche Produktion begünstigt bzw. nachhaltig beeinflusst. So wurden beispielsweise Amphetamine (Pervitin) als Substanz entwickelt, mit deren Hilfe der Schlaf-Wachrhythmus u.a. bei U-Boot-Fahrern manifestiert werden konnte – und in den sogenannten Blitzkriegen des Polen- und des Frankreichfeldzuges wurde ebenfalls massenhaft Pervitin angewandt. Diese Substanz ist heute als Crystal bekannt: Bei der aktuellen Drogenepidemie handelt es sich im Grunde lediglich um eine erneuerte Version der historischen Drogenepidemie (vgl. Schmitz-Dräger, Truckenbrodt 2017, 284 f.).

Das Wissen um Zeitgeschichte als Wirkfaktor in der Entwicklung von Familiensystemen und Generationen sollte dementsprechend in eine therapeutische Arbeit integriert und die individual-zentrierte Perspektive um kontextuelle Erklärungen und damit um die mehrgenerationale Perspektive erweitert werden.

 

 

Stachowske, Ruthard (2009)
Mehrgenerationentherapie und Genogramme in der Drogenhilfe.
Drogenabhängigkeit und Familiengeschichte,
3. Auflage
Asanger Verlag.