„Mehrgenerationale kontextuelle Theorien besagen, dass familiäre Entwicklungsprozesse über ihre eigene Geschichte hinaus in den Kontext kultureller und geschichtlicher Realitäten zu stellen sind. Aus den Rückkoppelungsprozessen zwischen den Systemen und Kontexten entwickeln sich familiäre Atmosphären, die die Lebensentwicklungen Einzelner beeinflussen. […] Die Beteiligten [sind] gefordert, die kulturhistorischen und geschichtlichen Zusammenhänge genau zu betrachten, in denen sich die familiären mehrgenerationalen Entwicklungsprozesse vollzogen haben.
So zu denken eröffnet die Möglichkeit, neue Perspektiven hinsichtlich der Ursachen der Drogenepidemien in der Vergangenheit und in der Aktualität zu entwickeln.
Denn mit der Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert und dem parallelen Aufbau der chemisch-pharmazeutischen Industrie begann eine neue Ära der Produktion, des Vertriebs und des Konsums psychotroper Substanzen. Es gründeten sich Firmen wie zum Beispiel Merck, Boehringer und die früheren IG Farben Werbe, die heutigen Bayer-Werke. In jener Zeit wurden die Substanzen entwickelt, groß-industriell produziert und vertrieben, die auch in der Drogenepidemie der Neuzeit relevant sind, so u. a. das ‚Codein‘, das ‚Cocain‘ und das ‚Heroin‘ (vgl. Stachowske 1994, 99f.)
Ebenso ist eindeutig belegt, dass im 19. und im 20. Jahrhundert genau diejenigen Drogensubstanzen in unserem Kulturkreis konsumiert wurden, die auch in der Drogenepidemie von heute eine Relevanz besitzen (vgl. u. a. Stachowske 1994, 127 f.). Parallel zu dem steigenden Verbreitungsgrad dieser Drogensubstanzen wurden in den medizinisch-wissenschaftlichen Veröffentlichungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zunehmend Fälle manifester Drogenabhängigkeiten beschrieben. […]
Setzt man die Zeitebene der familiären Entwicklungsprozesse heutiger Familiensysteme in Beziehung zur Geschichte der Drogenepidemie, wird deutlich, dass sich die Familiengeschichte und die Geschichte der Drogenepidemie begegnet sein können. Denn die heute bekannten Drogensubstanzen waren als legale Substanzen im 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert verfügbar. […] Der hohe Verbreitungsgrad dieser psychotropen Drogensubstanzen und deren nachgewiesene Verbreitung und Wirkung in kulturellen und familiären Kontexten war auch, so zum Beispiel in der Gynäkologie und Pädiatrie (vgl. hierzu Cadéac et Malet 1886; Lewin 1924/1927/1980, 81 ff.; Redlich 1929, 66; Haupt 1886; Runkel 1900, 30 ff.; Döbeli 1913, 442/445 f.) der mögliche legale Erwerb durch Privatpersonen bei Herstellern, Versandapotheken und in Drogenkaufhäusern (Haupt 1886; RMI 10.456-10.846), die Drogenproduktion im Dritten Reich (vgl. Der Heidebote, 14.7.1950), die Abhängigkeitsentwicklung in der Nachkriegszeit (vgl. Dobroschke 1955; Deutsche Apothekerzeitung 1963) beschrieben und belegt. Folglich scheint die Hypothese berechtigt, dass in unserer Kultur, in unseren Familiensystemen und möglicherweise besonders in den Familiensystemen, aus denen heraus sich drogenabhängige Lebensentwürfe entwickelt haben, unreflektiertes Wissen über psychotrope Drogensubstanzen vorhanden sein muss“ (Stachowske 2009, S. 36 f).
Wie sind die Existenz der Drogenepidemie und ihre Manifestation als Kulturproblem seit dem 19. Jahrhundert erklärbar? Der Beginn der Drogenepidemie heutiger Dimension wird in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur in ihren Ursprüngen in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts zeitlich verortet (vgl. Petzold 2007). Diese aktuelle Drogenepidemie ist allerdings nicht, wie Petzold ausführt, ‚über Nacht‘ entstanden. Tatsächlich ist sie nur der aktuelle Fortsatz einer Drogenepidemie, die sich in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen im mitteleuropäischen Kulturkreis seit 1806/1826 entwickelt hat und durch medizinisch-wissenschaftliche Veröffentlichungen spätestens seit 1862 belegt ist. Wie oben bereits angesprochen, spielen in der Geschichte der Drogenepidemie diejenigen Drogensubstanzen eine Rolle, die auch in der aktuellen Drogenepidemie ‚eine Größe‘ darstellen. Dies sind u. a. die Opiate, so das Morphium (ab 1826), das Codein (ab 1832), das Heroin (ab 1898) und das Polamidon (ab 1942), das Cocain (ab 1860) und das LSD (ab 1943).
Mithin ist die Geschichte der aktuellen Drogenepidemie ab ca. 1826 nachweisbar und keineswegs eine ‚neue Epidemie‘, die erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Ab ca. 1860 verdichten sich in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur Hinweise u. a. über den sich ausbreitenden Morphinismus und den Missbrauch von Codein und Cocain. Die ersten mir bekannten medizinisch-wissenschaftlichen Veröffentlichungen über den Missbrauch des Opiates Morphin sind die Arbeiten von Beer 1864, Samter 1864, Laehr 1872 und Fiedler 1874. Sie beschreiben den missbräuchlichen Konsum von Morphium bzw. von Cocain. Die erste medizinisch-wissenschaftliche Beschreibung eines körperlichen Entzuges vom Opiattypus, hier dem Morphin, ist von Eder im Jahre 1864 überliefert. In jener Zeit ist auch die Krankheitsdefinition der Abhängigkeiten von Opiaten entwickelt und in der medizin-wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit eingeführt worden. Diese Krankheitsdefinition der Abhängigkeiten vom Opiattypus Morphiumsucht (Laehr 1872) und Morphinsucht (Levinstein 1874/75)) sind in der medizinhistorischen Perspektive die Grundlagen für das Verständnis von Sucht, auf die wir uns auch heute noch berufen. Es sind die in der Medizingeschichte anerkannten ersten Definitionen der Morphiumsucht als eigenständige und neue Krankheit (vgl. Kreutel 1988, 251). Die Geschichte der aktuellen Drogenepidemie wird durch diese Aussagen in ihren Konturen erkennbar, ihre Ursachen sind damit natürlich noch nicht erklärt. Die Geschichte der Drogenepidemie ist kein Zufall. Sie ist vielmehr die zwangsläufige Konsequenz verschiedener geschichtlicher Entwicklungen, die in ihrem Zusammenwirken ihre Manifestation haben“ (Stachowske 2009, S. 39 f).
„Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften“ (Horkheimer/Adorno 1967, zit. n. Eisenberg 1986, 79). Und weiter: ‚Die gesellschaftlichen Strukturen arbeiten sich in die Körper, in die ‚Natürlichkeit’ der Individuen hinein (Eisenberg, 1986, 80) […]
Bisher war die Existenz der Geschichte der Drogenepidemie nur diffus bekannt. Es ist meines Wissens bislang keine Verbindung zwischen der Geschichte und der Aktualität des Themas erarbeitet worden. Dass der Geschichte der Drogenepidemie und ihrer Bedeutung bislang kein ernsthafter Stellenwert in der sozialwissenschaftlichen Diskussion zugesprochen wurde, ist sicherlich auch dadurch begründet, dass manche Quellen nicht in ausreichendem Maße zugänglich waren. So sind zum Beispiel die Unterlagen des Reichsministeriums des Inneren in Archiven gelagert, die bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Bereich der Deutschen Demokratischen Republik archiviert und somit für die westdeutsche Wissenschaft nicht erreichbar waren, oder es sind Hinweise in ihrer Bedeutung schlicht verkannt worden, so u. a. die Hinweise auf die Enqueten 1893 und 1900, oder beispielsweise die seit 1893 existente Opiumsteuer (vgl. Behr 1980,111). […]
Dieses ‚neue Denken‘ bei der Aufklärung der aktuellen Drogenepidemie ermöglicht, eine geschichtlich und mehrgenerational-therapeutisch erklärte Verbindung herzustellen, durch die Geschichte und Aktualität miteinander verbunden werden können. Die aktuelle Drogenepidemie hat eine Geschichte, die als solche erkannt werden muss. Aus dieser wissenschaftlichen und therapeutischen Perspektive werden neue Sichtweisen und neue Erklärungen von Drogenabhängigkeit möglich. […]
Bei der Beachtung der geschichtlichen Dimension des aktuellen Drogenproblems wird deutlich, dass auch das mehrgenerationale Wachstum von Familiensystemen in einen sozialen und kulturellen Kontext eingebunden war, der die Manifestation drogenabhängiger Lebensentwicklung förderte. Daraus folgt, dass die Begriffe ‚Gesellschaft‘, und ‚Kultur‘ mit der Entstehung von Sucht und Drogenabhängigkeit verbunden sind. Verbindet man die Geschichte des Drogenproblems mit der Aktualität und beachtet die wirtschaftlichen und kulturellen Entstehungsbedingungen – so erscheint die Entwicklung eines drogenabhängigen Lebens nicht mehr primär als eine aus dem sozialen Kontext des Einzelnen gewachsene Störung, sondern als eine Entwicklung, die aus einer Interaktion zwischen geschichtlichen, aktuellen, kulturellen und familiären Zusammenhängen entstanden ist“ (Stachowske 2009, S. 93 ff.). “die WHO hat vor wenigen Jahren ein neues Klassifikationssystem bereitgestellt, welches den individuellen und pathologiezentrierten Blick der ICD erweitert und auf Aspekte des Lebensvollzugs, der Leistungsfähigkeit und der sozialen Teilhabe an den Mikro- und Makrostrukturen der Gesellschaft richtet. Diese „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) entspricht in ihrer Philosophie diesem Denken.
„Da die ICF den Blick öffnet und die Komplexität der unterschiedlichen Bedingungen und Folgen von Behinderung thematisiert, dabei auch Ressourcen, Kompensationsstrategien, Kompetenzen und die Gesundheit berücksichtigt, werden Therapie und Rehabilitation nun auch offiziell mit der Aufgabe betraut, komplexe psycho-soziale Systeme zu diagnostizieren und zu gestalten. Für die Rehabilitation ist nun Systemkompetenz gefragt. In einem nächsten Schritt wird es nun darum gehen müssen, die vielfältigen Einzelaspekte der ICF, die dort benannt sind, in ihrer Vernetztheit und in ihren Wechselwirkungen zu verstehen und zu modellieren. Ein Bild auf die Komplexität von Behinderungen wird für die Rehabilitation erst durch solche Netzwerkmodelle und die daraus resultierenden zeitlichen Muster konstruierbar. Ein richtungsweisender Schritt auf eine solche ‚systemische Diagnostik‘ ist mit der ICF sicher getan“ (Schiepek, Vorwort zu Stachowske 2008, S. IV).
Behr, H. G. (1980). Weltmacht Droge. Das Geschäft mit der Sucht. Wien: Econ Verlag.
Döbeli, E. (1912). Über die Verwertung von Opiaten im Kindesalter. Monatsschrift für Kinderheilkunde, 60 (2), 438-450.
Dobroschke, C. (1955). Das Suchtproblem der Nachkriegszeit: eine klinische Statistik. Deutsche medizinische Wochenschrift, 80 (33/34), 1184-1185.
Haupt, [o. Vorname] (1886). Ein Fall von Cocainsucht bei einem Kinde. Deutsche Médicinal-Zeitung, 16. September 1886 (75), 825.
Kreutel, M. (1988). Die Opiumsucht. Stuttgart: Deutsche Apotheker Verlag.
Lewin, L. (1924). Phantastica. Die betäubenden und erregenden Genussmittel. Für Ärzte und Nichtärzte. Berlin: Stilke. https://ia600100.us.archive.org/26/items/b29822270/b29822270.pdf [20.04.2018].
Redlich, F. (1929). Rauschgifte und Suchten. Weltwirtschaftliche und soziologische Betrachtungen zu einem medizinischen Thema. Bonn: Schroeder.
Petzold, H. (2007). Drogenabhängigkeit als Krankheit. In H. Petzold, P. Schay & W. Ebert (Hrsg.), Integrative Suchttherapie. Theorie, Methoden, Praxis, Forschung. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden: VS, S. 465-482 (Vortrag gehalten 1988).
Runkel, J. (1900). Über die Anwendung von Heroin in der Kinderheilkunde. Dissertation. Bonn: Universität Bonn.
Stachowske, Ruthard (1994): Familienorientierte stationäre Drogentherapie. Geesthacht Neuland Verlag.
Stachowske, R. (2008). Sucht und Drogen im ICF-Modell. Genogramm-Analysen in der Therapie von Abhängigkeit. Kröning: Asanger
Stachowske, R. (2009). Mehrgenerationentherapie und Genogramme in der Drogenhilfe: Drogenabhängigkeit und Familiengeschichte (Reihe: Familienpsychologie – Familientherapie, Systemische Therapie). 3., unveränd. Aufl. Heidelberg: Asanger (Erstaufl. erschienen 2002).
Stachowske, Ruthard (2009)
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