Ruthard Stachowske               

Wissenschaftliche Publikationen

Zeitgeschichte in ihrer Rückkopplung auf die Lebensgeschichte

Zur Verwobenheit von Zeitgeschichte und Lebensgeschichte
„Zeitgeschichte“ und „Lebensgeschichte“ sind zwei Begriffe, die in einem dialogischen Verhältnis zueinander stehen. Dies erklärt sich sowohl durch die theoretische Begründung als auch durch die „erlebte und gefühlte“ Bedeutung beider Begriffe im Leben selbst.

Sie sind Elemente jedes Lebens und werden daher „immer und jederzeit“ erlebt. Die Bedeutung der Zeitgeschichte ist im Leben eher zweitrangig. Beide sind mächtige Wirkfaktoren in der Entwicklung von Lebens- und Familiengeschichte. Beide entwickeln einen gegenseitigen Rückkopplungseffekt zueinander. Die komplexen Zusammenhänge möchte ich im Folgenden gerne erläutern. Zunächst widme ich mich den Fragen:
„Was ist Zeitgeschichte?“ und „Was ist „Lebensgeschichte?“
Der Begriff „Zeitgeschichte“ bezieht sich auf die jeweilige Epoche bzw. den Zeitraum, den zumindest ein Teil der noch lebenden Bevölkerung bewusst miterlebt hat. Der Begriff meint somit keinen eindeutig abgrenzbaren und damit klar erkennbaren oder definierten Zeitraum, sondern er meint das bewusste Miterleben aller Entwicklungen und Veränderungen im Verlaufe einer Epoche, die somit Zeitzeugen hervorbringt. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft heißt es:
„Geschichte (im engeren Sinne als Geschichte des Menschen) wäre dann zeitlich dimensionierte Kultur. Von diesem weiten Kulturbegriff lässt sich ein engerer unterscheiden, der nicht den Gesamtbereich bestimmten menschlichen Handelns und Leidens bezeichnet, sondern nur einen Teil der Lebenspraxis – denjenigen nämlich, der ihre Innenseite betrifft, also den Gesamtbereich von Mentalität, Bewusstsein und Geist. Kultur ist dann derjenige Teil des handelnden und leitenden Umgangs des Menschen mit seiner Welt und sich selbst.“ (Rüsen 2008, S. 237)
Für die Vollständigkeit sei auch erwähnt, dass mit dem Begriff „Zeitgeschichte“ auch die wissenschaftliche Untersuchung und Darstellung des jeweiligen Zeitraumes durch die Geschichtswissenschaften gemeint ist (vgl. Hockerts 1994, S. 136f.).
 
Zeitepoche“ hingegen meint hier die Lebenszeit und das Erleben in dieser Zeit. Der Begriff der Zeitgenossen (zeitgeschichtlicher Begriff) oder Zeitzeugen (zeitgeschichtlicher und familientherapeutischer Begriff) beschreibt diejenigen, die in dieser Zeit an dem teilgenommen haben, was die Entwicklung dieser Zeitepoche hervorgebracht hat (vgl. Lüscher/Liegle 2003, S. 58).

Übertragen auf unsere Fachlichkeit ist mit „Erleben der Zeitzeugen“ das Leben der Eltern, Großeltern und manchmal auch Urgroßeltern der Klienten und Patienten gemeint, die wir beraten und therapieren. Der Einfluss durch diese Verwandten spielt eine entscheidende Rolle in der Lebensentwicklung und ebenso in der Entwicklung unserer professionellen Identität (vgl. auch Rüsen, 2008, S. 237).

Der Begriff „Lebensgeschichte“, meint als Terminus der Entwicklungspsychologie die Lebenszeit eines jeden Menschen und die Besonderheit, die jede Lebensentwicklung auszeichnet (vgl. Montada 2002, S. 8).

„Lebensgeschichte“ meint die Geschichte eines Lebens, die sich in jedem Moment dieses Lebens als Teil der Selbstfindung reflektiert. Oder sie zeigt sich, wie wir dies in der Regel in Therapie und Beratung erleben, als Geschichte eines Lebens, in der Teile nicht verarbeitet und nicht geklärt sind und sich so im aktuellen Kontakt zu Beratern und Therapeuten in einem komplexen Rückkopplungsprozess in Konfliktentwicklungen widerspiegeln. Verdrängte Teile dieser Lebensgeschichte zeigen sich immer wieder bewusst, vorbewusst oder unbewusst.

„Hierbei wird davon ausgegangen, dass das Frühere im Heute wirksam ist, dass verschiedene Entwicklungsepochen der Vergangenheit in der Gegenwart noch wirken.“ (Massing et al. 1992, S. 21)

Jedoch gibt es einen weiteren komplexen Zusammenhang zum Verständnis von Lebenszeit und Lebensentwicklung.

Lebenszeit und Lebensgeschichte sind immer die vollständige Entwicklungszeit. Diese Zeit ist nach dem theoretischen Grundlagenwissen der Entwicklungspsychologie (vgl. u.a. Oerter/Montada 2002) und der vorgeburtlichen Psychologie (vgl. u.a. Rauh 2002) auch die Zeit der vorgeburtlichen Lebensentwicklung, die jedoch nicht durch sprachliche Reproduktion im Sinne der Verbalisierungsfähigkeit emotionalen Erlebens aus der eigenen Lebensgeschichte erreichbar ist (vgl. Montada 2008, S. 6f.; Rauh 2008; Grimm/Weinert 2002).

Dieser Zeitraum beginnt mit der Zeugung und reicht bis zum ca. vierten Lebensjahr und umfasst somit auch die Zeit der vorgeburtlichen Entwicklung. Das „Erleben“ aus der vorgeburtlichen Entwicklung und der nachfolgenden Zeit kann in der Regel „nur gefühlt“ und nicht in der retrospektiven Reflexion der Lebensgeschichte „verbalisiert“ werden. So betrachtet, „fühlt“ ein Kind mit dem Erreichen des vierten Lebensjahres bereits eine annähernd fünfjährige Lebens- und Entwicklungszeit. Diese Zeit der Lebensgeschichte erscheint mir auch im professionellen Kontext weitgehend „abgespalten“. Die vorgeburtliche Entwicklung wird nicht regelhaft in Therapie, Beratung und Diagnose „reflektiert“ und ist damit ihrer wirklichen Bedeutung nicht beachtet und kann somit auch nicht verstanden werden.

Hierfür spricht ebenso die juristische Realität, dass der juristische Begriff „Kindeswohl“ durch die bestehende Gesetzgebung erst ab dem Moment der Geburt gilt. §1 BGB sagt:
„Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit Vollendung der Geburt.“
Der wichtige Teil der vorgeburtlichen Lebenszeit in Betrachtung der Lebensgeschichte ist wissenschaftlich und fachlich nicht selbstverständlich reflektiert, wie die Lebensgeschichte ab dem ca. vierten Lebensjahr, von herausragenden und besonderen Lebensereignissen abgesehen. Dieser Teil ist auch professionell und wissenschaftlich abgespalten. Durch die professionelle Orientierung, begründet durch das jeweilige Menschenbild und die angewandten Methoden in Diagnostik, Beratung und Therapie, wird dieser Themenbereich verdrängt und abgespalten. In Therapie und Beratung erlebe ich immer wieder, dass es eine „gefühlte Erinnerung“ an diese Zeit gibt, in der Regel durch prägnant erlebte „innere Bilder“.

Daher leben sowohl Einzelne als auch ganze Familien mit nicht ergründeten Geheimnissen, und auch in professionellen Systemen gibt es Abspaltungen von Themen, die wenig beachtet oder in ihrer Bedeutung nicht „tief“ verstanden werden. Dies hat manchmal entscheidende Konsequenzen und Bedeutungen für Diagnose, Beratungs- und Therapieprozesse.

Mit den Begriffen „Zeitgeschichte“ und „Lebensgeschichte“ ist weitere „Grundsätzlichkeit des Lebens“ untrennbar verbunden. Lebensgeschichte als Ausdruck eines „einzelnen Lebens“ gibt es nicht. Das Ich und somit die individuelle Lebensgeschichte entwickelt sich immer im Dialog mit dem Du. „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Buber 1923/1994, S. 37; vgl. auch Boszormenyi-Nagy/Spark 1973/1990, S. 26). Dies beschreibt das urdialogische Prinzip menschlicher Reifung. Das Ich entwickelt sich in einem dialogischen Prinzip mit dem Du.

Die Annahme eines Lebensentwurfes, der sich „individuell entwickelt“, ist eine wissenschaftlich abstrakte Erklärung und damit gleichsam eine Reduktion der Komplexität von lebens- und familiengeschichtlicher Entwicklung auf nur einen Teil des Ganzen. Dieses Konstrukt nutzt in der Folge der Reduktion möglicherweise die Komplexität menschlicher Entwicklung dadurch, dass nur „Teile des Ganzen“ betrachtet werden. Tatsächlich lässt sich die Komplexität menschlicher Entwicklung nicht durch eine wissenschaftlich abstrakte Reduktion dieser Komplexität auf einzelne Teile des Ganzen „ersetzen“.

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ (Aristoteles) 
„Nicht die Übereinstimmung gedanklicher Verknüpfung mit wirklichen Verhältnissen, nicht die Tauglichkeit von Deutungskombinationen zur Erklärung seelischer Entwicklungen ist das erste Kriterium des Wahren als solchem, sondern die menschliche Lebensfähigkeit, wie sie in der Gemeinschaftlichkeit menschlichen Lebens gründet … . Nur auf dieser Grundlage sind in der psychoanalytischen Situation lebensgeschichtliche ‚Wirklichkeiten‘ und ‚Wahrheiten‘ sinnvoll gefragt.“ (Marten 1978, zit. n. Massing et al. 1992, S. 35)
 
Diese Komplexität von Lebensentwicklung ist durch die Erkenntnis zu erweitern, dass jeder Mensch im Kontext seines Systems der Generationen lebt. Bezogen auf das Thema dieses Vortrages bedeutet dies: „Jeder Mensch lebt im Dialog mit dem Du innerhalb seiner sozialen Welt“. Integraler Bestandteil dieses Du ist auch das System der Generationen, das jede Lebensentwicklung begleitet.

Wichtig ist zudem, dass die Hinwendung zur Komplexität von Lebensentwicklung auch daran erkennbar wird, dass die WHO in ihrer sogenannten „Familie der Diagnostiksysteme“ die ICD-10 um ein weiteres Diagnosesystem erweitert hat. Mit diesem in Therapie und Beratung anzuwendenden neuen Diagnosesystem soll genau diese Komplexität erkannt werden: Dies ist die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health; vgl. DIMDI o.J.). Nach der bevorstehenden Einführung der ICD-11 wird es eine zwingende Verbindung zwischen dem linealen Diagnosesystem ICD-10 bzw. 11 und der ICF geben. Mit deren Hilfe soll die tatsächliche Komplexität individuellen Seins erfasst werden (vgl. Stachowske/Schiepek 2017).

Ein weiterer Schlüsselbegriff ist daher der Begriff der Generation, gemeint als „Brückenbegriff“, mit dessen Hilfe die Verbindung des individuellen Lebens und der Komplexität einer Lebensentwicklung erklärt und gleichsam die Verbindung zwischen dem familiären Früher zum familiären Hier und Jetzt erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang stelle ich nur zwei Detailbegriffe (von vielen) dar, um den Begriff Generation verständlich zu machen.

Dies ist zum einen die familiäre Generation als Teil des jeweiligen Systems, also die Enkel, die Kinder, die Eltern, die Großeltern und die Urgroßeltern innerhalb eines Familiensystems. Zum anderen die gesellschaftliche Generation, also die Gruppe (Kohorte) derjenigen, die jeweils denselben historischen Zeitraum erlebt haben, z.B. die „68er“, die „Wende-Generation“, die Kriegskinder, die Nachkriegsgeneration, die Kriegsgeneration, die vaterlose Generation, die „Ökos“ und viele andere (vgl. auch Lüscher/Liegle 2003, S. 51f.).

Karl Mannheim beschrieb dies in seinem bis heute bedeutendem Werk von 1928 „Das Problem der Generationen“ wie folgt (durch Kohli, 1978, erklärt):

„‚Für jeden ist die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt‘ (S. 517). Mannheim geht es offensichtlich im Kern darum zu zeigen, wie das Nebeneinander von Generationen im eben umschriebenen Sinne zu einem Ausgangspunkt historischer Dynamik werden kann. Er fordert, nochmals unter Bezug auf Pinder, es sei ein Zeitdenken notwendig, das ‚polyphon‘ organisiert sei: ... ‚In jedem Zeitpunkt muß man die einzelnen Stimmen der einzelnen Generationen heraushören, die stets von sich auch jenen Punkt erreichen‘ (S. 518).“ (Kohli, 1978, S. 38 ff.)

Das Leben im System einer Generation zeichnet sich durch eine Lebenszeit in einer bestimmten Zeitepoche und den sich berührenden Generationen aus, die jeweils sehr spezifisch prägende Erfahrungen gemacht haben. Jedoch – und dies ist von höchster Bedeutung – bleiben diese Erfahrungen nicht Teil dieser Generationserfahrung, sondern es begegnen sich im Leben jeweils einzelne sich nahestehende Generationen. Diese partipizieren „zwangsläufig“ an den Erfahrungen der jeweils anderen Generationen.
In den wissenschaftlichen Erklärungen und Begründungen dieses komplexen und, wie ich es empfinde, interessanten und spannenden Themas werden die Zusammenhänge unterschiedlich begründet.

Sigmund Freud (1917):

So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Weg über Generationen fortgepflanzt haben. … Die Menschheit lebt nie ganz in der Gegenwart, in den Ideologien des Über-Ichs lebt die Vergangenheit, die Tradition der Rasse und des Volkes fort, die den Einflüssen der Gegenwart, neuen Veränderungen, nur langsam weicht, und solange sie durch das Über-Ich wirkt, eine mächtige, von den ökonomischen Verhältnissen unabhängige Rolle im Menschenleben spielt.“ (Freud 1917/1989, S. 505)

Die Vertreter der Göttinger Schule (1992):
„In der Begründung der Mehrgenerationen-Familientherapie gehen wir von zwei Basisannahmen aus. Die erste meint, daß sich Störungen und Konflikte der jeweiligen Kindergeneration regelmäßig aus unbewußten Konflikten zwischen Eltern und Großeltern, beziehungsweise den Partnern und ihren Eltern ergeben. Dies geschieht durch vielfache intrafamiliäre Übertragungsprozesse. Des weiteren nehmen wir an, daß sich in Familien über die Generationen im wesentlichen immer wieder dieselben Konflikte abspielen, daß also ein intrafamiliärer Wiederholungszwang besteht. Daher gibt es auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Heute und dem Früher in Familien. Es ereignet sich im Prinzip immer wieder dasselbe.“ (Massing et al. 1992, S. 21)

Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang: In diesen Schulen ist die Familientherapie theoretisch begründet, und die Einflüsse der Zeitgeschichte werden als Wirkfaktor generationaler Entwicklung erklärt – und letztlich ist die Beachtung dieser zeitgeschichtlichen Einflüsse in Therapie und Beratung als Standard gefordert.

„Die Mehrgenerationen-Familientherapie, die die Großelterngeneration mit in die Behandlung von Paaren, Eltern und Kindern einbezieht, bedeutet die bewußte Einführung einer überschaubaren, real erlebten geschichtlichen Dimension in die familientherapeutische Behandlung. Unter Umständen kann so ein angesprochener Zeitraum von über 80 Jahren die Entwicklungstendenzen der einzelnen Familienmitglieder verdeutlichen und gegebenenfalls sogar begründen. Läßt man die Großeltern ihrerseits aus ihrer Kindheit berichten, so erweitert sich der erfaßbare historische Raum noch einmal.“ (Massing et. al., 1992, S. 22f.)

„Die Ausschöpfung der Quellen der Zeitgenossenschaft ist eine der Hauptbegründungen des Mehrgenerationen Settings in der Familientherapie.“ (ebenda, S. 28)

Habermas (1987) formulierte in seinen Beiträgen über die Aufarbeitung der deutschen nationalsozialistischen Vergehen und die Auseinandersetzung mit der Geschichte unserer Väter und Großväter im Nationalsozialismus folgenden beeindruckenden Satz:

„Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist.“ (Habermas 1987, S. 140; vgl. auch Heimansberg 1992, S. 18)

Brandstädter (1990) als Vertreter der Soziologie:
„Daß durch die Berücksichtigung der kulturell-historischen Kontextbedingungen von Entwicklungsprozessen u.U. wesentliche Varianzanteile in entwicklungspsychologischen Daten aufgeklärt werden können ... . Ein umfassenderes Verständnis der Entwicklungsdynamiken im Lebenslauf setzt also voraus, daß die Einbettungen ontogenetischer und lebenszyklischer Entwicklungsprozesse in umgreifende historische und kulturelle Evolutionsprozesse berücksichtigt werden.“ (S. 331; vgl. auch Stachowske 2002/2009, S. 7)

Wenn die Zeitgeschichte und die Lebensgeschichte in einem so bedeutungsvollen dialogischen Verhältnis zueinander stehen, stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wie in Beratung und Therapie sowie der damit im Zusammenhang stehenden Diagnostik diese Verbindung gewürdigt und beachtet wird oder werden kann.

Diese Frage ist nahe liegend und gleichzeitig sehr ungenau, denn wir arbeiten mit Methoden und Verfahren, die uns vorgegeben sind. Nicht „wir“ in Beratung und Therapie entscheiden über die Vielfalt der Methoden, sondern unser Handeln ist durch fachliche Normen und Werte ebenso wie durch gesetzliche Bestimmungen geprägt. Wir sollten daher eher fragen:

Welche Möglichkeiten haben wir in unserem professionellen System aufgrund unserer fachlichen Werte, Normen und Methoden in Beratung, Therapie und Diagnose, die Bedeutung von Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte zu beachten?

Eine erste kurze Antwort vorweg: Wir haben tatsächlich nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten – an dieser Stelle vernachlässige ich die Bedeutung der ICF (vgl. Stachowske/Schiepek 2017).
Noch deutlicher gesagt: Die Einflüsse der Zeitgeschichte auf die Entwicklung von Lebens- und Familiengeschichte hat in standardisierten Methoden und Verfahren keine etablierte Bedeutung oder findet keine regelhafte Anwendung. Damit ist der Faktor Zeitgeschichte durch Menschenbilder, Methoden und die sich hieraus ergebende Praxis der verschiedenen Schulen abgespalten.

Wie erklärt sich der Widerspruch zwischen der Bedeutung der elementaren dialogischen Beziehung von Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte in der Gesamtentwicklung von Lebens- und Familiengeschichte einerseits und andererseits die Abspaltung in Methoden und Verfahren?

Eine Antwort lässt sich wiederum aus der geschichtlichen Entwicklung der jeweiligen Methoden in Beratung, Therapie und Diagnose ableiten. Wenn wir heute mit diesen Methoden arbeiten, dann sind diese wesentlich durch Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie oder Systemische Therapie und durch die jeweiligen „Menschenbilder“ dieser Schulen und ihre theoretischen Begründungen beeinflusst. Übergreifend hat die ICF als ein seit 2004 vom GBA beschlossenes Klassifikationsverfahren eine wichtige und gleichsam (noch) vernachlässigte Rolle (DIMDI o.J.).

Genau betrachtet sind all diese Methoden individuell zentrierte Verfahren, die (bis auf die Systemische Therapie) den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt des professionellen Interesses stellen. Störungen im Leben des Einzelnen werden in der Regel als Ausdruck individuell lebensgeschichtlicher Entwicklungen und manchmal auch als Ausdruck einer familiengeschichtlichen Entwicklung verstanden.

Die Beachtung versus die Nichtbeachtung von Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte in der Anwendung etablierter Methoden in Beratung und Therapie erklärt sich einfach und logisch, indem wir die Geschichte dieser Grundlagenverfahren und in theoretischen Begründungen ihrer Verfahren zurate ziehen. Alle Verfahren begründen sich wissenschaftlich mit (weitgehend) individualzentrierten Theorien. Die ICD-10 als zentrales, schulenübergreifend genutztes Diagnosesystem hat dabei eine grundlegende Bedeutung und auch eine „merkwürdige“ Geschichte. Sie hat sich aus der Todesursachenstatistik des Völkerbundes entwickelt, also aus einem wenig dynamischen Teil des Lebens, und wird erst in der Zeitepoche seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit als Diagnosesystem für „lebende Menschen“ genutzt.

In der Folge der zeitgeschichtlichen Entwicklung der Verfahren und Methoden, die in der Gegenwart unser professionelles Handeln beeinflussen und begründen, ist „wider besseres Wissen“ die Zeitgeschichte als Einflussgröße in der Lebensgeschichte nicht ihrer wirklichen Bedeutung entsprechend integriert worden und bleibt somit abgespalten. Zudem hat sich keine Tradition von Interdisziplinarität entwickelt, in deren Folge z.B. Geschichtswissenschaftler selbstverständlich mit Psychotherapeuten zusammengearbeitet hätten.

Es gilt jedoch, noch eine andere Ebene des Themas zu verstehen. Die Frage dieses Vortrages „Zeitgeschichte in ihrer Rückkopplung auf die Lebensgeschichte“ impliziert, dass es zwischen diesen beiden Themen einen Zusammenhang gibt. Wenn dieser nicht im Standard beachtet wird, stellt sich die Frage:

Gibt es neben der bisherigen Argumentation noch einen anderen Grund, dass dieser Zusammenhang nicht gesehen wird? Anders gefragt. Macht diese Abspaltung einen Sinn – und wenn ja, welchen?

Bei der Erarbeitung dieser Antwort zeigt sich ein weiterer, selten oder nie thematisierter Teil dieses Themas.

Das Gehörte aushalten können
Wenn wir nach den Einflüssen der Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte fragen, müssen wir auch aushalten, was sich uns zeigt – und das ist nicht immer so einfach möglich. Vielleicht hat die Abspaltung der Zeitgeschichte als Einflussgröße vor diesem Hintergrund auch den Sinn, uns vor uns selbst und vor dem zu schützen, was sich uns offenbaren würde.

„In Deutschland ist die Erzähltradition, die Überlieferung von Erfahrung von einer Generation zur anderen nachhaltig zerstört worden; die Fassadenkonstruktionen, die diesen Traditionsbereich verdecken sollen, machen die Sache nicht besser.“ (Speier 1988, S. 16f.)
 
„Kinder brauchen Märchen; aber sie brauchen ebenso nötig Eltern, die ihnen von ihrem Leben erzählen, damit sie einen Bezug zur Vergangenheit herstellen können. Zum Erzählrepertoire der Eltern und Großeltern gehören aber nun nicht mehr ‚einfache‘ Kriegs- und Abenteuergeschichten, sondern bedenkliche, beschämende, ja, gefährliche und grässliche Geschichten, die verrückt machen können. Von den für sie entscheidenden Erlebnissen erzählen zu viele Väter und Großväter, Mütter und Großmütter den Kindern lieber nichts. Was da ausgeblendet wird, erscheint bei den Kindern, die heute unsere Patienten sind, als Leere, Identitätsdiffusion, Verwirrung. Mit dieser Beunruhigung (einer verständlichen Beunruhigung, denn dies alles ist ja Realität) kommen sie in unsere Praxen und begegnen hier verschwiegenen Therapeuten, die bestrebt sind, sie ‚klassisch‘ zu behandeln, um nicht selbst mit den Gespenstern der Nazi-Zeit konfrontiert zu werden.“ (ebenda, S. 19)
 
„Nach ‚Auschwitz‘ gibt es keine Erzähltradition mehr und kaum noch Eltern und Großeltern, die die Kinder auf den Schoß nehmen und von ihrem Leben in alten Tagen berichten.“ (ebenda, S. 18f.)

Eddy de Wind, ein holländischer Psychoanalytiker und Verfolgter des nationalsozialistischen Vernichtungsstaates, erlebte und überlebte als Insasse das Grauen der Konzentrationslager. Als ihm lange nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage gestellt wurde, warum die Überlebenden der Konzentrationslager so wenig Hilfe von den Psychoanalytikern erlebt hätten, antwortete er, jeder Analytiker hätte in jeder Therapiestunde mit den Patienten in das KZ gehen müssen – und das hätten sie nicht ausgehalten.
Hier zeigt sich ein weiteres Paradox dieses Themas, das es zu verstehen gilt. Die Adenauer-Regierung beauftragte bereits Anfang der 1950-Jahre Historiker und eine Historikkommission damit, die Flucht- und Vertreibungserfahrungen vieler Deutscher mit den Methoden der Wissenschaft der Zeitgeschichte zu erforschen. Daraus entstand eines der größten (!) zeitgeschichtlichen Forschungsprojekte in der Bundesrepublik Deutschland. Etwa 11.000 Betroffene legten nach einem bestimmten methodischen Verfahren geschriebene autobiografische und Detailbeschreibungen ihrer Flucht- und Vertreibungserfahrungen schriftlich nieder. Dieses Forschungsprojekt wurde ca. 1962 mit dem letzten Band 7 über die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien abgeschlossen (vgl. Moeller 2002, S. 123f.)

Es war möglich, mit dem Beginn der Bundesrepublik die zeitgeschichtlich erkennbaren und bedeutungsvollen Opfererfahrungen der Deutschen wissenschaftlich zu erforschen. Als Kind von Flüchtlingen des Zweiten Weltkrieges erkenne ich die schlimmen Opfererfahrungen vieler Flüchtlinge an.

Doch es bleibt diese Frage unbeantwortet:

Warum war es nicht ebenso möglich, die Geschichte der Täter und der Täterschaft und damit die Geschichte des deutschen Volkes als Verursacher des Grauens durch den Nationalsozialismus aufzuklären?

Nach vielen Therapien mit Zeitzeugen, die diese Zeit bewusst erlebt haben, spüre ich mehr und mehr Fragen und Zweifel in mir, ob es wirklich so einfach möglich ist, die Ereignisse der Zeitgeschichte und die Bedeutung für die Lebensgeschichte, wie sie sich uns im professionellen Kontext zeigen, in Therapie, Beratung und Diagnose zu berücksichtigen.

Ich erinnere mich an eindrucksvolle Therapiesitzungen, in denen Zeitzeugen von ihren Erlebnissen berichteten – und ich merke, dass es mir kaum „einfach“ möglich wäre, das wiederzugeben, was sie mir erzählt haben. Dies sind Berichte, die ich in meinem Leben mehr nicht vergessen werde.

Ich möchte Sie gerne an einigen dieser Berichte teilhaben lassen. Dies tue ich, um zwischen Ihnen und mir wertschätzend zu fragen, ob wir in der Lage sind, Ereignisse der Zeitgeschichte zu hören, zu verstehen und uns ihnen zu widmen – und nicht zuletzt auch, sie auszuhalten.

Ich erinnere eine Mehrgenerationen-Familientherapiesitzung mit einer russlanddeutschen Familie, die Jahre zuvor von Russland nach Deutschland immigriert war. Vor mir saß eine Familie, die es viel Überwindung gekostet hatte, sich an der Therapie ihres drogenabhängigen Kindes bzw. Enkels zu beteiligen. Vor mir saß jedoch auch eine Familie, die mir bekannt vorkam – selbst ein Kind russlanddeutscher Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges, hat mich in diesen Therapiesitzungen vieles erreicht, da ich manches tatsächlich vor- und unbewusst aus den Gesprächen mit meiner Familie kannte: Vor mir saß eine russlanddeutsche „Oma“ (gemeint ist Dame) mit ihren goldenen Zähnen, die mich an viele Omas in meiner Familie erinnerte und deren viele goldene Zähne mich als Kind immer fasziniert hatten. Ich merkte, dass diese Familie sich zunehmend öffnete – zwischen Ihnen und mir war zu spüren, dass wir uns auf einer tiefen Ebene „kannten“. Es entstand eine „gefühlte“ Vertrautheit, die sich aus den Biografien und den Familiengeschichten ergab und die nicht ausschließlich Ausdruck meines therapeutischen Wirkens war.

Und dann erzählte die alte Frau von ihren Erlebnissen, sie war Wolgadeutsche. Sie berichtete (sinngemäß):
„Stalin kam über Nacht – auf der ganzen Wolga kamen die Schiffe, die uns holen sollten. Am nächsten Morgen kam der Befehl, dass wir alle auf diese Schiffe gehen mussten, alle, ein ganzes Land musste mit diesen Schiffen weggehen. Wir wurden nach Sibirien gebracht. Ein ganzer Landesteil mit allen Menschen ist innerhalb von ein bis zwei Tagen geholt und mit diesen Schiffen abtransportiert worden. Als diese Schiffe abgelegt haben und ich zurückblickte, sah ich, dass alle Tiere uns Menschen hinterher schwammen – die Wolga war ein Meer von Tieren.“

Das erlebte Grauen aus dieser Zeit war im Gesicht dieser alten Frau zu sehen. Ich nehme an, auch in meinem Gesicht. Ich merke, dass es mir auch heute noch schwer fällt, darüber zu sprechen und das in mir auszuhalten, was sie mir erzählte. Ich werde, wie diese alte Frau, diese Bilder nicht mehr los. Renate Jegodtka schrieb in einem 2013 erschienenen Buch über die Sekundärtraumatisierung der professionell Tätigen – ich glaube, eine solche habe ich erlebt, und ich bin zugleich dankbar, dass mich diese Frau an ihrem Leben teilhaben ließ.

Ein anderes Beispiel: Vor wenigen Wochen bat mich ein junges Paar, gemeinsam eine Sitzung Paartherapie durchzuführen. Die junge Frau, die vermeintlich unter Angststörungen litt, war im fünften Monat schwanger.
Der Schwangerschaft wegen versuchte ich mit großer Vorsicht, mit diesem Paar eine Therapiesitzung zu gestalten. Bereits nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass der Mann, der Vater des Kindes, gerade eine langjährige Dienstzeit bei der Bundeswehr beendet hatte und sich beruflich neu orientieren wollte. Auf die Frage nach seiner Tätigkeit in der Bundeswehr erzählte er, er sei als Fallschirmspringer im Auslandseinsatz tätig gewesen. Nur wenige Minuten später berichtete er, dass – in der Vorstellung seiner Familie und Familiengeschichte – auch sein Großvater als Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg tätig war. „Er hat auf Kreta gekämpft.“

Ich bat die schwangere Frau für einen Moment vor die Tür. Ich erklärte und begründete dies damit, das ungeborene Leben schützen zu wollen. Ich wollte gerne dem werdenden Vater zu dem Erlebten in seinem Beruf einige Fragen stellen. Als die werdende Mutter den Raum verlassen hatte, fragte ich ihn, mit welchen Erfahrungen er aus dem Auslandseinsatz zurückgekommen sei, und er berichtete von einem Moment auf den anderen, als ob sich diese Erfahrungen wie in einem inneren Film abspielten. Er war tief bewegt von dem erlebten Grauen – es war in seinem Gesicht erkennbar, „Ich war im Kampf zusammen mit den internationalen Truppen – da sind Menschen gestorben, nicht bei uns, jedoch auf der anderen Seite.“ Von alleine sagte er anschließend und unmittelbar: „Ja, ich weiß, mein Großvater war Fallschirmspringer auf Kreta“. Auf meine Frage, ob er wisse, was dies bedeutete, antwortete er: „Nein“.

Zu den zeitgeschichtlichen Fakten der Kriege mit deutschen Fallschirmspringern im Zweiten Weltkrieg auf Kreta: Hitler ließ in einer Nacht im Jahre 1941 ca. 10.000 Soldaten mit Fallschirmen über Kreta abspringen. Sie sollten die Insel absichern und besetzen. Von diesen 10.000 Soldaten waren nach dieser Nacht nur noch 6000 kampffähig (Kellerhoff 2016).

Tage später schrieb der werdende Vater (zusammen mit der werdenden Mutter): „Wir danken für das Gespräch“ – er bedankte sich dafür, dass er endlich über seine Erfahrung aus dem Krieg sprechen konnte – und dass ich ihm zugehört habe.

Als letztes Beispiel möchte ich Ihnen gerne einen kurzen Ausschnitt aus der Lebensgeschichte meiner Mutter vorlesen. Kurz bevor sie starb, habe ich mit ihr ein Interview zur Familiengeschichte geführt. Sie berichtete mir von einer Begegnung, die sie als junge Frau in Polen mit den ersten Juden hatte, die aus dem Ghetto in Łódź ins Vernichtungslager gebracht wurden:
„Und jetzt werde ich von diesem Transport erzählen. Und mein allerschlimmstes Erlebnis im Krieg, das war der Winter 1942. Ich ging zum Konfirmandenunterricht. Und wir waren ahnungslos, und ob unsere Eltern das wußten, was mit den Juden geschah, das kann ich heute nicht mehr sagen, aber wir Kinder wußten es nicht. … Aber was ich auch [von] diesem Konfirmandenunterricht noch erzählen möchte, das hat so ein, das war so ein einschneidendes Erlebnis, und es ist auch einen Teil meines Lebens, [das] im Nachhinein geformt wurde, zumindest mit entschieden hat. Wir kamen an dem Unterrichtstag, also an dem Nachmittag, da haben wir, wir haben ein Schlussgebet nach dem Konfirmandenunterricht gesprochen, da hat dieser Pastor … gebetet: ‚Herr, Herr, öffne heute den Kindern die Augen, wenn sie nach Hause gehen. Was in der Welt geschieht, wenn sie von diesem Bösen ergriffen werden!‘ Oder so ähnlich hat er es gesagt. Dann kamen wir, das war im Januar, ein ganz klarer, kalter Wintertag, die Sonne schien so am Nachmittag schön, aber dann war doch die Sonne nicht mehr so, und wir fuhren in die Straße ..., und dann hörte es sich so an, als wenn Kraniche fliegen, und wir stutzten und wußten ja, da wir ja auf dem Lande waren, wußten wir, dass es um diese Zeit keine Kraniche gab.

Und dann sahen wir von Weitem so eine graue Masse, aber wir konnten es noch nicht unterscheiden, ob es Menschen waren, und … je näher wir kamen, da sahen wir, dass es Menschen waren. Sie wurden von der SA begleitet, wenn man nicht sagen kann: getrieben. Es waren die ersten Juden, es war der erste Judentransport aus Warschau, der aus dem Warschauer Ghetto. Nein, es war im Januar 1942, und es war so grausam. Alle fünf Meter von rechts und links gingen SA-Leute mit Karabinern, und wenn irgendjemand auf dem Bürgersteig stehen blieb, es war so entsetzlich für uns, diese Masse Menschen und dann alle mit dem Judenstern und die Frauen mit den Kindern auf dem Arm, und wer guckte, wer darauf guckte oder aufguckte, der bekam gleich mit dem Karabiner, also mit dem Holzknauf schlugen sie auf Zivilisten, die auffällig guckten, ein, und da ist, und dahinter, nicht, mußten soundsoviele Schlitten mit Pferdegespannen gestellt werden, die warteten auf dem Bahnhof, und Alte und Schwache und Tote und die wurden dann, das war der letzte Transport, man trieb diese Menschen ... auf den Marktplatz. … Und ein Gesicht, das werde ich heute unter Tausenden wieder erkennen, es war eine, es war eine junge Mutter, die hatte ein Kind, so eine Tragedecke über die Schulter, eines hatte sie hinten und eines vorne und einen Nachttopf daneben. Und ich sah diese Kinder und die guckten und wir guckten uns, und sie guckten mir ganz tief in die Augen und ich ihnen auch. Und diesen Blick werde ich nie vergessen in meinem Leben. Und ich war so fertig, als ich all diese Menschen, diese alten Menschen … . Das mußten die Juden denn auch, wenn einer zusammenbrach, dann mußten sie, dann mußten sie den aufraffen wie Vieh. Und sie waren ja so erfroren, und wie ein Stück Vieh warfen sie ihn dann auf den Schlitten rauf, und die wurden dann auch so reingebracht in die Synagoge, lebend und tot, und alle mußten da rein. …

Und um ein Uhr kamen dann die Lastwagen ..., da wurde schon 1941, da haben sie den Wald …, der wurde eingezäunt mit Stacheldraht und mit Hunden und so, und da weiß ich nicht, ob es SS oder Soldaten waren, aber bewacht. Und da war auch ein Verbrennungsofen in diesem Wald … . Die Tante …, die erschossen wurde, die Tante, die wohnten da, und die hatten da einen Bauernhof. Und meine Eltern, im Winter fuhren sie da, um die zu besuchen, und da sagte sie: ‚Ich weiß nicht, was hier los ist. Es stinkt ständig nach verbranntem Fleisch‘, und in diesen Wald durfte niemand rein, und sie glaubten immer, dass sie da Munition aufheben und in Wirklichkeit wurde da ein Verbrennungsofen, war dort ein Verbrennungsofen eingerichtet. Und dann haben sie die Leute um ein Uhr aus der Synagoge geholt … und abtransportiert, und gegen zehn Uhr kamen die Lastwagen vom SV, das war der ‚Nationalsozialistische Verein‘, ‚Nationalsozialistische Frauenverein‘. Das ging den ganzen Winter 1942 Tag für Tag, von Januar bis März hinein. Das war so schrecklich für mich, ich hab‘ immer daran gedacht, wenn wir Konfirmandenunterricht hatten. …
Dann haben wir zu Hause den Eltern das gesagt und hat dann mein Vater mich so gebeten: ‚Erzähl das keinem Menschen‘, … da denke ich noch heute dran, was hat das, ich habe das gesehen, ich habe dieses Elend gesehen. Was wird einmal der Herrgott von uns Deutschen verlangen.“ (unveröffentlichter Lebensbericht)

Wenn ich nun nochmals frage:
Gibt es neben der bisherigen Argumentation noch einen anderen Grund, dass dieser Zusammenhang zwischen Leben und Zeitgeschichte nicht gesehen wird?,

dann möchte ich zumindest mir eine Antwort geben und Sie an dieser Antwort teilhaben lassen.

Die Ereignisse der Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte (und damit auch in der Familiengeschichte) zu erfragen, sie zu verstehen, sich ihr zu widmen, bedeutet auch zu fragen: Wie war meine Familie beteiligt? Es ist zu einfach, „nur die Klienten“ zu fragen – wir müssen auch in unserem je eigenen Leben und in unserer Familie diese Frage stellen und die Antwort, die zutiefst verändern kann, aushalten. Es geht immer auch um Zeitgeschichte in meiner Lebensgeschichte und meiner Familiengeschichte. Und wir müssten sowohl in unseren Familien als auch professionellem Kontext die Antworten aushalten und ertragen, die wir auf die Frage nach der Rückkopplung von der Zeitgeschichte in der Lebens- und Familiengeschichte erhalten.

Begegnung mit der Zeitgeschichte in der Praxis von Therapie und Beratung
So weit zur Zeitgeschichte in ihrer Rückkopplung auf die Lebensgeschichte.

Nun möchte ich gerne darüber sprechen, wie sich diese Ereignisse in der praktischen Anwendung in Therapie, Beratung und Diagnose zeigen. Hierfür berichte ich im Folgenden von einer Therapie, in der die Faktoren der Zeitgeschichte in der Entwicklung von Lebens- und Familiengeschichte eine wichtige Bedeutung und eine jahrelange Rückkopplung hatten.

In der Therapie einer drogenabhängigen Mutter, die zusammen mit ihren beiden Kindern eine stationäre Therapie begann, zeigte sich sehr bald ein deutlich übersexualisiertes Verhalten der fünfjährigen Tochter.

Die Therapie der Mutter vollzog sich, wie wir es erlebten, in einem konstruktiven Prozess, ebenso die Therapie beider Kinder. Jedoch war für uns auch wahrnehmbar, dass wir Teile dieser Familie und das Erleben in dieser Familie in dieser Therapie trotz einer erkennbar hohen und glaubwürdigen Motivation nicht erreichten. Im späteren Therapieverlauf beschrieb die Mutter ihre Wahrnehmungen von einer erlebten sexuellen Gewalt, die sie als kleines Kind sehr authentisch „spürte“. Sie entwickelte sehr deutliche innere Bilder über Ort, Zeit und Raum der sexuellen Gewalt, die sie erlebt hatte. Doch war es ihr aufgrund ihres Alters zum damaligen Zeitpunkt kaum möglich, diese Erfahrung zu verbalisieren.

Im späteren Verlauf der Therapie der Mutter und ihrer beiden Kinder beteiligten wir auch die Herkunftsfamilie dieser Mutter an der Therapie. Ohne dass die Mutter der Klientin explizit danach gefragt wurde, berichtete auch sie sehr bald und sehr deutlich von eigenen sexuellen Gewalterfahrungen, die auch sie bereits etwa in ihrem vierten Lebensjahr, also einem ähnlichen Lebensalter wie bei ihrer Tochter, erfahren hatte. Auch sie hatte sexuelle Gewalt erlebt, die sie „nur spüren“ und kaum verbalisieren konnte.

Damit wurde für uns erkennbar, dass mindestens zwei (diagnostisch gesicherte) Generationen in diesem Familiensystem in einem ähnlichen Alter sexuelle Gewalt erlebt hatten, die sie jeweils sehr deutlich mit inneren Bildern wahrnehmen konnten. Sie waren jedoch kaum in der Lage, sie so zu verbalisieren, dass sie durch einen kommunizierten Dialog therapeutisch erreichbar wurden. Durch eine Annäherung mit viel Zugewandtheit und einem tiefen Vertrauen des Therapeuten bzw. der Therapeutin in die eigene intuitive Wahrnehmungsfähigkeit kann es auch möglich gemacht werden, mit solchen inneren Bildern therapeutisch zu arbeiten.

Wenige Wochen nach der Einschulung des Mädchens in dieser Familie, das dieses deutlich übersexualisierte Verhalten zeigte, wurde deutlich, dass auch sie über lange Zeit hinweg schwere sexuelle Gewalt erlebt hat. Ihr auffälliges Verhalten, das bis dahin niemand verstand oder verstehen konnte, erzählte die Geschichte einer im vierten Lebensjahr erlebten schweren sexuellen Gewalt. Sie wurde in einer der internationalen Welt zugewandten deutschen Stadt regelmäßig in der Prostitution missbraucht.
Damit offenbarte sich uns bereits ein dreigenerationales Szenario.

Da wir trotz dieser Erkenntnisse nicht den Eindruck hatten, dass wir mit unseren therapeutischen Möglichkeiten nachhaltig eine Veränderung bewirken konnten, entschieden wir uns, alle Mitglieder dieses Familiensystems an einer mehrgenerationalen Familientherapiesitzung zu beteiligen.

Zu Beginn der Sitzung wurde die Familie gebeten, uns bei der Klärung der Frage zu unterstützen, warum es in der Familie immer wieder diese schweren sexuellen Gewalterfahrungen gibt.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagte die 84-jährige Großmutter unvermittelt:
„Ich möchte euch jetzt etwas sagen, worüber ich noch nie gesprochen habe.“

Dann erzählte sie von der mehrmonatigen Vergewaltigung durch russische Soldaten, die sie als junge Frau erlebt hatte. Der Bericht endete mit den Worten:
„Ich habe immer gespürt, dass etwas in meiner Familie nicht stimmte, aber ich konnte nicht mehr richtig auch auf euch aufpassen.“

Dieser Lebensbericht erfolgte ca. 10 Minuten nach dem Beginn der mehrgenerationalen Familientherapie.

Dies war ein bewegender Moment, in dem der Ursprung dieser sexuellen Gewalt in einer frühen Generation und somit das ursächliche Trauma deutlich wurde. Das Früher im Heute wurde sichtbar. Alle anwesenden Frauen und Mütter konnten realisieren, dass sie durch ihr eigenes Trauma ohnmächtig, im wörtlichen Sinne ohne Macht waren, um ihre Kinder richtig schützen zu können. Die Erfahrung sexueller Gewalt im Kontext von Krieg, Gewalt und Machtausübung wirkte „als Früher im Heute weiter“. Durch die mehrgenerationale Familientherapie wurde das Sprechen der alten Frau über die erlebte sexuelle Gewalt möglich – und in der Folge wurde erkennbar, wie stark die ursprünglich erlebte sexuelle Gewalterfahrung als Trauma die Entwicklung dieses Familiensystems prägte. Nach einer langen Phase der Sprachlosigkeit war ein Kontakt zwischen den Betroffenen möglich. Die Verarbeitung des Erlebten konnte beginnen.
Diese Familie lebt heute in Harmonie zusammen.

Nach dieser Sitzung bat die Großmutter der Familie mich mehrmals, an weiteren Therapiesitzungen teilnehmen zu dürfen. Berührt und dankbar erzählte sie mir – „Herr Ruthard, ich möchte Ihnen noch sagen ...“ – viele der Geheimnisse aus ihrem Leben, die mit diesen ursprünglich erlebten Traumata im Zusammenhang standen. Gerührt und bis heute bewegt hat mich, als sie mir aus der Zeit nach den erlebten Vergewaltigungen noch eine andere Geschichte erzählte, über die sie bislang nicht gesprochen hatte.

Als russische Soldaten der unteren Ränge sie etwa zwei Monate lang regelmäßig vergewaltigt hatten, erfuhr ein russischer Offizier davon und stoppte sofort die Gräueltaten durch die Untergebenen. Er hatte begonnen, sich um die junge Frau zu bemühen, und beide verliebten sich ineinander. Sie lebten vier Monate in einer Wohnung in Osteuropa zusammen. Als sie mir dies erzählte, spürte ich, wie die Liebe in ihr noch immer lebendig war. Nach vier Monaten bekam der russische Offizier den Befehl, in die Heimat zurückzukehren, und das Paar wurde getrennt. Mein Eindruck war, dass die Großmutter sich von diesem Mann, den sie immer noch liebte, in Wahrheit nicht wirklich getrennt hatte. Sie hatte zwar später mit Männern zusammengelebt, aber es war nicht mehr möglich, eine wirkliche Liebe zu entwickeln oder eine solche zu leben. Sie hat mir mit 84 Jahren gezeigt, dass sie diesen russischen Offizier immer noch liebte.

Ich habe lange gebraucht, um all das zu verstehen, was mir diese Familie und diese alte Dame erzählten – und bitte glauben Sie mir, es war nicht einfach, das zu verstehen, zu fühlen und dies mit meinen Werten in Einklang zu bringen.

Zum Abschluss der Geschichte dieser Familie möchte ich Ihnen noch berichten, dass die Mutter dieser Kinder mittlerweile eine akademische Ausbildung abgeschlossen hat, der älteste Sohn ebenfalls, die jüngere Tochter macht aktuell ihr Abitur, und die Großmutter ist dement geworden und berichtet auch in dieser Zeit ihres Lebens immer wieder dankbar, dass sie die Möglichkeit hatte, an der Therapie ihrer Enkeltochter teilzunehmen. Sie fragt immer wieder: „Wie geht es Herrn Ruthard“?

Nun möchte ich exemplarisch die Geschichte dieser Familie mit den Quellen der Zeitgenossenschaft – oder anders gesagt, mit den Wissensständen der Wissenschaft der (Zeit-)Geschichte in Verbindung bringen. So wird es möglich, die verschiedenen Ebenen dieser Fallgeschichte miteinander zu verbinden und die Rückkopplungsprozesse beider Ebenen zu verstehen.
  • Es ist möglich, die individuellen Lebensgeschichten und in der Summe die Familiengeschichten genau zu verstehen und in Therapie und Beratung zu begleiten und zu behandeln.
  • Und es ist ebenso möglich zu verstehen, wie durch die Methode der sexuellen Gewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen Ereignisse in Familiengeschichten mit übermächtiger Kraft einbrechen und zerstören.


Die Ereignisse in dieser Familie sind nicht „family made disaster“, sondern basieren auf einem generationsübergreifenden Rückkopplungsprozess auf das erlebte man made disaster, aber vom Menschen verursachte Traumata der Kategorie A (vgl. Eichhorn/Kuwert 2011, S. 34).

Anhand der Geschichte dieser Familie möchte ich Ihnen im Folgenden aus wissenschaftlicher Perspektive die Zeitgeschichte darstellen und begründen. Dabei ist meine Hoffnung, dass durch diese Vermittlung der Fakten der Zeitgeschichte erkennbar wird, wie wichtig es ist, dass für ein umfassendes Verständnis des Leidens mancher Menschen und mancher Familien die Disziplinen und Schulen der Psychotherapie mit der Wissenschaft der Zeitgeschichte in einen interdisziplinären Dialog treten sollten. Meine Hypothese ist, dass sich die Ereignisse der sexuellen Gewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges und anderer Kriege auch in heutigen Schwangerschaftskonfliktberatungen als „Früher im Heute“ zeigen.



Zeitgeschichtlicher Hintergrund: Sexuelle Gewalt als Kriegsgewalt im Zweiten Weltkrieg


Eine Chronik der Ereignisse:
„Während des deutschen Russlandfeldzuges im Zweiten Weltkrieg vergewaltigten SS und Wehrmacht viele sowjetische Frauen. Trotz Beschwerden der Wehrmachtstelle angesichts des Ausmaßes blieb der Großteil der Übergriffe auf sowjetische Frauen ungestraft, da sie die ‚Manneszucht‘ oder die Truppensicherheit nicht gefährdeten (Mischkowski 2006). Um den unkontrollierbaren Verkehr der Soldaten einzuschränken, wurden hunderte Militärbordelle eingerichtet, in denen sowjetische Frauen sexuell versklavt wurden.“ (Eichhorn/Kuwert, 2011, S. 23)

„1945 kam es zu einer Vergewaltigungswelle durch die russische Armee beim Vormarsch nach Berlin. Bis zu zwei Millionen Frauen wurden hierbei allein durch russische Alliierten missbraucht (Messerschmidt 2006; Jacobs 2008; Johr 1995).“ (ebd., S. 24)

„Im Frühjahr 1945, zu einem Zeitpunkt also, als der Zweite Weltkrieg fast zu Ende war, rückten russische Truppen auf deutsches Gebiet vor und vergewaltigten während ihres Vorrückens und im Zeitraum der Besatzung fast zwei Millionen Frauen (Beevor 2002, S. 410; Johr 1995).“ (ebd., S. 25)

„Am 12. Januar 1945 rückten rund 3,5 Millionen russische Soldaten unter Stalins Herrschaft über Ostpreußen, Polen, Pommern und Schlesien nach Berlin vor. Die deutschen Truppen seien dem sowjetischen Heer zahlenmäßig unterlegen gewesen, sodass die Zivilbevölkerung der Waffengewalt nahezu schutzlos ausgeliefert war (Jacobs 2008). Insgesamt seien in den darauffolgenden Monaten etwa 1,9 Millionen Frauen vergewaltigt worden (Johr 1995, S. 58).“ (ebd., S. 26)

„Fakt sei jedoch, dass das ‚Schicksal der Ostbesatzungszone ein besonderes‘ ist (Johr 1995; Schmidt-Harzbach 1984; Messerschmidt 2006). ... So existieren Berichte, die Übergriffe durch amerikanische, britische und französische Soldaten dokumentieren (vgl. Johr 1995). Über amerikanische Soldaten heißt es in manchen Quellen, sie brauchten keine rohe Gewalt, um eine Frau für sich zu gewinnen, ihr Auftreten oder Güter wie Nylonstrümpfe und Schokolade hätten als Gegenleistung ausgereicht (Grossmann 1995; vgl. Mischkowski 2006; Schmidt-Harzbach 1984). In Süddeutschland habe es Tausende Vergewaltigungen durch französische Alliierte gegeben, obwohl solche Gewaltakte, ebenso wie bei den anderen alliierten Truppen, offiziell verboten gewesen seien (Mischkowski 2006). Zu Vergewaltigungen in der britischen Besatzungszone gebe es dagegen kaum Berichte ... . In der russischen Besatzungszone war das Ausmaß der gewaltsamen Übergriffe auf deutsche, aber auch auf beispielsweise polnische oder ukrainische Frauen hingegen besonders groß.“ (ebd., S. 26f.)

„Frauen hatten bereits vor der Ankunft der Roten Armee Angst vor dem, was kommen würde ... . Die nationalsozialistische Propaganda-Maschinerie habe die Bevölkerung in verschiedenen Medien auf den sogenannten ‚russischen Untermenschen‘ ‚vorbereitet‘, sodass die Angst vor dessen angeblicher Unmenschlichkeit und Triebhaftigkeit angeheizt wurde.“ (ebd., S. 27f.)

„Die Vergewaltigungen betrafen sowohl junge als auch alte Frauen und Kinder. Väter und Ehemänner seien häufig Zeugen gewesen (Schmidt-Harzbach 1984).“ (ebd., S. 28)

„Zahlreiche Frauen bekamen durch die Vergewaltigungen Geschlechtskrankheiten oder die Regel blieb aus. Nicht selten litten die Betroffenen lebenslang an den Folgeschäden oder starben sogar daran ... . Etwa 200.000 Frauen haben die Traumatisierung nicht verkraftet und sich das Leben genommen (Messerschmidt 2006; Mischkowski 2006). Insgesamt ist von fast 300.000 Kindern die Rede, die durch Vergewaltigung gezeugt worden seien (Johr 1995).“ (ebd., S. 28)

„Schätzungen zu Abtreibungszahlen sind kaum zu machen, da ... nicht bekannt ist, wie viele Kinder nach der Geburt starben oder getötet wurden (Johr 1995). ... Schmidt-Harzbach (1984) berichtet von einem generell herrschenden ‚stillschweigenden Einvernehmen‘ zwischen Ärzten, Richtern und der Polizei, was illegale Abtreibungen anbelangt. Grossmann (1995) spricht von einem aus der Not heraus sehr schnell und gut ausgebauten Gesundheitssystem. Ein Kind zu gebären, das nicht vom eigenen Ehemann stammt, habe für die meisten Frauen bedeutet, den Mann zu verlieren, wenn dieser sie nicht bereits allein aufgrund der Vergewaltigung verstoßen hatte (vgl. Poutrus 1995; Anonyma 1959/2003).“ (ebd., S. 28f.)

Andere Autoren weisen darauf hin, dass in dieser Zeit Schwangerschaftsabbrüche bis zum 9. Monat möglich waren.

Dies sind die theoretisch durch die Wissenschaft der Geschichte begründeten Fakten der Zeitgeschichte zu Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg. Dies sind aber gleichsam die „Fakten der Zeitgeschichte“, die Frauen erst ertragen mussten, die übermächtig in ihr Leben eingegriffen und die Lebens- und Familiengeschichte nachhaltig beeinflusst haben.

Und dies sind die Fakten der Zeitgeschichte, die wir als Berater und Therapeuten hören „müssen“ und die wir aushalten „müssen“, wenn wir in manchen Familien danach fragen, wie Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte gewirkt hat. Zu bedenken ist, dass es sich hierbei um ein Thema handelt, das uns im Dialog von Zeitgeschichte in der Lebensgeschichte begegnen wird und das ich exemplarisch bearbeitet habe.
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