Rezension Ludwig Janus

Ruthard Stachowske (Hg.). Leben ist Begegnung. Systemische Therapie und Beratung. Asanger, Kröning 2017. S. 390. 29,50 €.

Basierend auf dem von ihm im Sommer 2016 organisierten großen Kongress in Dresden hat der systemische Familientherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Ruthard Stachowske ein sehr bemerkenswertes Buch herausgegeben, das die verschiedenen Dimensionen systemischer Therapie und Beratung ausleuchtet. Der Titel des Buches wie auch des Kongresses zitiert das Diktum von Martin Buber „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. So unmittelbar einleuchtend und sinnhaft dieser Satz klingt, so birgt er jedoch die abgründige Vielschichtigkeit von menschlicher Begegnung. In der aktuellen Begegnung sind gewissermaßen verborgene Hallräume präsent, wie etwa aus der jeweiligen Lebens- und Familiengeschichte und aus zeitgeschichtlichen Einflüssen, wie auch aus Beschädigungen des Erlebens und der Beziehungsfähigkeit aus traumatischen Erfahrungen. Diese verborgenen Hallräume werden in den fünf großen thematischen Blöcken des Buches jeweils in mehreren Beiträgen unter dem Obertitel „Systemische Beratung und Therapie“ ausgeleuchtet: Psychotraumatologie, Zeitgeschichte und Familiengeschichte, Pränatale Psychologie, Abhängigkeit und Familie und Kinder in Deutschland. Es folgt noch abschließend ein Absatz zur systemischen Wissenschaft. Diese thematischen Blöcke vermitteln die Vielschichtigkeit und Dynamik in menschlicher Begegnung und machen die große Herausforderung und Verantwortung deutlich, die in jeder menschlichen Begegnung liegt.
Der erste Block thematisiert die besonderen Schwierigkeiten in der Begegnung mit traumatisierten Menschen. „Begegnung mit gestautem Schrecken – sekundäre Traumaexposition“ ist ein Zwischentitel in dem Beitrag von Renate Jagodtka, die Problematik des Umgangs mit traumatisierten Menschen in der Beratung deutlich macht. Das in den letzten Jahrzehnten gewachsene Wissen um die Dynamik von traumatischen Erfahrungen ist hier eine wertvolle Ressource. Die Bedeutung von positiven und gesunden Emotionen verdeutlicht der Beitrag von Hans Menning. Das Wissen um die Komplexität der Folgewirkungen von traumatischen Erfahrungen ist auch im Bereich der Pädagogik bedeutsam, insbesondere auch für die Einrichtung und konstruktive Nutzung von „Helfernetzwerken“ (Beitrag von Thorsten Becker).
Das Thema des zweiten Blocks sind die oft eher unterschätzten Einflüsse der Zeitgeschichte und Familiengeschichte. Gerade wegen dieser Unterschätzung und der Fokussierung in der üblichen Psychotherapie und Beratung auf die jeweilige Einzelsituation hat dieser Teil des Buches mit 13 Beiträgen einen größeren Umfang. Hier hat die Familientherapie ein direkteren Zugang, wie Günter Reich in seinem kenntnisreichen Übersichtsbeitrag zeigt, einfach weil die Familiengeschichte offensichtlicher mit der Zeitgeschichte verflochten ist und hier auch immer die so wichtige Mehr-generationenperspektive unmittelbar evident ist. Die Situation nach Kriegen stellt die Frage, wie Versöhnung und Frieden zu erreichen sein können. Ansätze hierzu liefert das sogenannte Sandwich-Model, eine Kombination der Arbeit in Kleingruppen und Gruppen (Beitrag von Robi Friedman). Die innige Verwobenheit von Familiengeschichte und Zeitgeschichte ist in exemplarischer Weise im privaten und öffentlichen Leben des Serbenführers Slobodan Milosevic präsent, wie Hans-Jürgen Wirth sie eindrucksvoll vergegenwärtigt und die inneren Verbindungen zwischen der Familiengeschichte und dem politischen Wirken von Milosevic aufzeigt. In die Wirren des Zweiten Weltkrieges 1941 geboren Milosevic eine Kette von höchst traumatischen Verlusten, die in ähnlicher Weise auch das Leben seiner Frau Mira belasteten, deren Eltern nach extrem traumatischen Erfahrungen Doppelselbstmord begingen. Auch die Eltern von Milosevic begingen Selbstmord. Es ist offensichtlich, dass solche durch traumatische Erfahrungen innerlich starre Menschen unfähig waren, mit den komplexen Herausforderungen durch die Veränderungen der Zeit nach der Herrschaft Titos konstruktiv umzugehen. Aber man kann es wohl so verstehen, dass Milosevic und seine Frau gewissermaßen etwas von der Traumatisiertheit und Gewaltbereitschaft der serbischen Gesellschaft insgesamt aus deren Geschichte von Fremdherrschaft und Opfer von Eroberungen repräsentierten. Diese belastete Geschichte ist auch ein Hintergrund für das durch männliche Dominanz und Gewalt bestimmte sogenannte Zadruga-Familiensystem in Serbien und dem südlichen ehemaligen Jugoslawien. Die Kategorien des Narzissmus und des Masochismus aus der Anfangszeit der Psychoanalyse, die Hans-Jürgen Wirth zum Teil verwendet, werden in ihrem recht begrenzten Erklärungswert der Komplexität der Zusammenhänge jedoch nicht ausreichend gerecht.
Wie sehr Belastungen des Krieges in Kindern und deren Kinder, in sogenannten Kriegsenkeln, Jahrgänge von 1950-1980, nachwirken, schildert kenntnisreich der Beitrag von Ingrid Meyer-Legrand. Hier ist die transgenerationelle Weitergabe von unverarbeiteten traumatischen Belastungen besonders deutlich aufzeigbar. Hier können wir dankbar sein, dass wir in so sicheren Zeiten leben, dass eine solche Besinnung erstmalig möglich ist, während die Kriegskinder des ersten Weltkrieges in unheilvoller Weise in die Wiederholungen der Kriegstraumata ihrer Eltern im Zweiten Weltkrieg gewissermaßen hineingezogen waren. Zur Klärung dieser abgründigen Zusammenhänge kann das „Archivwesen“ und eine dadurch mögliche Recherche eine Hilfe sein (Beitrag von Liane Freudenberg). Der heute mögliche Versuch einer nachträglichen Verarbeitung der ungeheuerlichen Gewalttätigkeiten im Zweiten Weltkrieg zeigen beispielhaft die Beiträge von Thomas Walther, Carola Rudnik, Uta Wehde, Ursula Riedel-Pfäfflin, Andrea Siegert, Heidrun Novy und Gerlind Swillen.
In dem Block zur Pränatalen Psychologie überschneiden sich zeitgeschichtliche und früheste lebensgeschichtliche Bezüge in dem erschütternden Schicksal von Angela Orosz-Richt, die im Dezember 1944 nach einer durch pharmakologische Experimente des KZ-Arztes Josef Mengele belasteten Schwangerschaft mit 1000 g lebensschwach geboren wurde und durch die Liebe und Stärke ihrer Mutter und glückliche Umstände überleben konnte. Ihr bewegender Bericht über ihr Leben wird in kundiger Weise durch Maria Gerz durch Angaben zur Familie der Eltern, den Umständen der Haft und das weitere Leben ergänzt. Die Konfrontation mit der Ungeheuerlichkeit dieser Wirklichkeit und dem Triumph vom Überlebenswillen von Angela Orosz-Richt und von der Kraft mütterlicher Liebe bildeten das unvergessliche emotionale Zentrum des Kongresses und die Berichte von Maria Gerz und Angela Orosz-Richt im jetzigen Buch sind einmalige Dokumente. In verdichteter Weise zeigen sie die Widersprüche der Zeit und in uns Menschen. Sie allein lohnen den Kauf des Buches.
Die folgenden Beiträge zur Pränatalen Psychologie werden eingeleitet mit einer Vergegenwärtigung des Menschheitswissens um die Bedeutung vorgeburtlicher Erfahrungen, wie es in der Bibel repräsentiert ist, von der Theologin Hanna Strack. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge der beiden Pionierinnen der Pränatalen Psychologie Natascha Unfried und Renate Hochauf, die in souveräner Weise die Erfahrungen aus der Therapie von Kindern und Erwachsenen zu den Wurzeln von seelischen Störungen in der vorgeburtlichen Zeit mit dem heutigen Wissen der Hirnforschung, der Embryologie, der Entwicklungspsychologie und der Psychotraumatologie in Verbindung bringen. Hier sind heute Klärungen möglich, die eine grundsätzliche Bedeutung für unser Selbstverständnis haben. Die frühesten Erfahrungen werden nämlich auf der Ebene des Stammhirns und Mittelhirns existenziell gespeichert. Eine situative Einordnung ist wegen der Unreife der höheren Hirnzentren noch nicht möglich. Diese Besonderheit der existenziellen Früherfahrungen, die den Kern des Unbewussten bilden, begleiten uns lebenslang und müssen in immer neuer Weise mit den reiferen Erfahrungen abgeglichen werden. Traumatische Belastungen blockieren diese Abgleichung und führen gewissermaßen zu Kurzschlüssen und Verzerrungen im seelischen Erleben. Wegen der genannten grundsätzlichen Bedeutung dieser Zusammenhänge will ich hierzu aus dem Beitrag von Natascha Unfried ausführlicher zitieren: „In den frühen Lebensjahren ist der Hippokampus entwicklungsbedingt noch unreif und darum eine explizite Gedächtnisspeicherung noch nicht möglich. Das Zusammenspiel zwischen dem Mandelkern, der bereits in der frühen Schwangerschaft funktionstüchtig ist, und dem Hippocampus ist bei erlebten Traumata behindert. Der Kontext für Zeit, Raum und Personenwahrnehmung geht während der traumatischen Situation verloren, Somit erscheint die traumatische Situation als Wiederholung. ... Die traumatischen Ereignisse werden als subkortical repräsentierte, dissoziative und sensomotorische Erfahrungsmuster implizit gespeichert und können im späteren Leben durch vergleichbare Trigger jederzeit reaktiviert werden. ... Durch die Spaltung in der Ich-Entwicklung bleibt die traumatische frühe Situation permanent aktuell und triggerbar“ (S. 245ff.). Diese aus der therapeutischen Erfahrung gewonnenen Einsichten erlauben auch Vermutungen auf der kollektivpsychologischen Ebene. Sie geben einen Ansatz dafür, die so unverständlichen Widersprüche im menschlichen Verhalten verständlicher zu machen, etwa das früher so verbreitete Schlagen der Kinder bei gleichzeitiger Liebe zu den Kindern. Hier kann man eben vermuten, dass gerade die Lebendigkeit und Impulsivität der Kinder solche traumatischen Blockierungen bei den Eltern triggerten und diese gewissermaßen auf der „Stammhirn-Mittelhirnebene“ reagierten oder agierten. Das könnte auch ein Erklärungsansatz für die Inszenierungen der Kriege, Verfolgungen und Gewalttätigkeiten in dem Sinne sein, dass hier jeweils wegen der allgemeinen traumatischen Belastungen in den Gesellschaften ein besonnener Umgang mit Konflikten nicht möglich war, sondern eben nur eine Inszenierung auf der „Stammhirn-Mittelhirnebene“. Aber das ist ein weitläufiges Thema, das den Rahmen einer Rezension sprengt, aber es wird eben durch die Vielschichtigkeit dieses Buches angeregt.
Die besondere Qualität des anschließenden Blocks „Abhängigkeit und Familie“ basiert auf der langjährigen Erfahrung des Herausgebers Ruthard Stachowske in der Suchttherapie. In seinem einleitenden Beitrag „Begegnung mit Abhängigkeit in Schwangerschaft, Familie und Generationen“ kann er überzeugend zeigen, dass der früher hier übliche individuums-zentrierte Ansatz überholt ist, und nur die Einbeziehung der sozialen, familiären und mehrgenerationellen und kulturellen Umwelt des Menschen der komplexen Wirklichkeit einer Abhängigkeitserkrankung gerecht wird. Darum ist der systemische Ansatz in diesem Bereich in besonderer Weise konstruktiv und wird auch durch die Einführung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO gestützt. In der konkreten Abhängigkeitserkrankung sind alle Dimensionen menschlichen Lebens präsent: die früheste und spätere Kindheit, die familiären Bedingungen, die gesellschaftlichen Zustände, die Zeitgeschichte und der mehrgenerationelle Raum. An eindrucksvollen Fallbeispielen kann Stachowske zeigen, wie hinter einem Suchtsymptom eine tragische Traumatisierung aus der Familiengeschichte und ganz anderen Zeitbedingungen stehen kann. Hilfreich ist das Diktum von Massing, Reich und Sperling „Denn wir gehen davon aus, dass das früher im heute weiterhin wirksam ist, unabhängig davon, ob das Bewusstsein es wahrhaben will oder nicht.“ In einem weiteren Beitrag mit dem Titel “Kinder, Familie und Sucht. Die Contergan Katastrophe Nummer 2“ entfaltet das nach meinem Eindruck viel zu wenig bekannte Feld des Ausmaßes der verhängnisvollen Auswirkungen von Suchtmitteln und Drogen auf die Kinder in der Schwangerschaft. Das uns heute nicht so bekannte Ausmaß der Nutzung psychotroper Substanzen in der Geschichte wird an dem Beitrag “Pervitin, die Wunderpille der Wehrmacht: Drogen und Sucht im Angriffskrieg“ von Katja Schmitz-Dräger und Michael Truckenbrot deutlich.
Die Bedeutung der Beachtung dieser Aspekte im Sozialhilfesystem zeigt der Beitrag von Fritz Pragst „Die Haaranalyse als diagnostische Methode in einem Sozialhilfesystem für Familien mit minderjährigen Kindern und drogenabhängigen Eltern“. Es ist einleuchtend, wenn er zu seinem Forschungprojekt schreibt: „Nach fünf Jahren Erfahrung mit diesem fortlaufenden Projekt erwies sich die Haaranalyse als ein sehr wirksames Instrument für die Sozialbetreuer und Behörden zur systematischen Verbesserung der Situation von Kindern in Familien mit Drogenkonsum.“ Gerade auch auf diesem Hintergrund zeigt sich die Dringlichkeit des Themas einer Förderung der Elternkompetenz. Dem ist der Beitrag von Heidrun Girrulat “Selbstermächtigung durch Eltern Coaching“ gewidmet. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder wichtig, die der Beitrag von Elisabeth Helming „Kinder in Deutschland. Gewalt gegen Kinder in Deutschland - Mythen und Fakten“ behandelt. Die gute Nachricht ist, die Gewalt nimmt ab, aber sie ist immer noch erschreckend hoch. Darum ist das Thema des Kinderschutzes weiter wichtig, dessen verschiedene Aspekte in den Beiträgen von Thomas Mörsberger und Heike Schader behandelt werden. Dabei betont Heike Schader in ihrem Beitrag die Wichtigkeit, dass sich der systemische Berater bei Kindeswohlgefährdung eindeutig positionieren muss.
Der abschließende Block ist dem Thema „Systemische Wissenschaft“ gewidmet. Trotz der Komplexität der Zusammenhänge kann gezeigt werden, dass bei der Aufstellungsarbeit gute Effekte eindeutig nachweisbar sind (Beitrag von Jan Weinhold). Günter Schiepek gibt einen umfassenden Überblick zu dem Thema „Systemische Forschung: eine Positions-bestimmung“. Seine Ausführungen über den hier notwendigen multiperspektivischen, multidisziplinären und multimodalen Zugang zeigen die Komplexität der Situation, insofern sich systemische Forschung auch noch mit "Nichtlinearität, Nichtstationarität und dynamischer Komplexität zu befassen hat“. Von daher ist verständlich, dass es sinnvoll ist, qualitative und quantitative Forschung zu kombinieren. Trotzdem werden in diesem Beitrag mehr die Schwierigkeiten als eventuelle Lösungsmöglichkeiten deutlich. In sehr speziellen Bereichen der Erforschung von Übersynchronisation bei neurologischen Erkrankungen konnte ein konstruktives Forschungssetting erarbeitet werden, ebenso bei Erforschung psychotherapeutischer Prozesse über die Auswertung messbarer Daten.
Als einen Gesamteindruck möchte ich abschließend formulieren, dass dieses Buch zeigt, welche Herausforderung in dem so einfachen Satz „Leben ist Begegnung“ liegt. Konstruktive Begegnung kann nur mit viel Wissen und Lebenserfahrung gelingen, um der Vielschichtigkeit menschlicher Begegnung gerecht werden zu können. Zu der Zeit, als Martin Buber seinen Satz formulierte, war vieles an Voraussetzungen noch nicht bekannt, damit „ Begegnung“ auch gelingen kann. Mit den Lehren aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts und aus den Fortschritten in vielen Wissenschaftsbereichen haben sich hier die Voraussetzungen wesentlich verbessert. Und hier ist der Bezugsrahmen der systemischen Therapie und Beratung in besonderer Weise konstruktiv, weil er die verschiedenen Hallräume die in einer konkreten Begegnung präsent sind, balanciert in den Blick nehmen kann. Dabei ist die Suchttherapie sicher eine besondere Herausforderung, weil wegen der besonderen Traumatisiertheit dieser Patienten nur ein mehrperspektiveischer Blick angemessen und sinnvoll ist. Mein Eindruck ist der, dass der Herausgeber aus der Herausforderung dieser Situation die Kraft gezogen hat, in dem Buch einen Rahmen zu kreieren, in dem diese verschiedenen Aspekte, die in einer Begegnungssituation präsent sind, so explizit thematisiert werden können. Das diese Aspekte natürlich auch in anderen sozialtherapeutischen individualtherapeutischen Feldern bedeutsam sind, ist das in diesem Buch versammelte Wissen von allgemeinerer Bedeutung. Deshalb wünsche ich ihm eine weite Verbreitung.

Ludwig Janus, Dossenheim.